120 Jahre NaturFreunde

Vom Arbeitstier zum Menschen werden

Essener NaturFreunde 1930
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Im Vielvölkerstaat der österreichisch-ungarischen Monarchie gründeten sich im Zeitraum von 1895 bis 1905 Dutzende, dann bald Hunderte NaturFreunde-Ortsgruppen und ab dem Jahr 1905 schließlich auch im Deutschen Kaiserreich und in der Schweiz. Kurz zusammengefasst lautete deren Programm: „Berg frei!“. Man wollte in der wenigen freien Zeit am Sonntag Fabrikarbeit, Wohnungselend der Industriestädte, Kirche und Wirtshaus hinter sich lassen, um in der Begegnung mit der Natur vom Arbeitstier wieder zum Menschen zu werden.

Diese Hinwendung zur Natur entspricht auf der bürgerlichen Seite der Jugendstil, der die Formen der Natur in die Alltagsgegenstände der Reichen überträgt – ein Reformstil gegenüber der aufkommenden Massenproduktion. Das Bürgertum ist reicher denn je und kann sich solche Eskapaden leisten.

In der Arbeiterbewegung, die auch nach dem Fall des Sozialistengesetzes hart vom Staat als Umsturzbewegung bekämpft wird, werden die NaturFreunde zu einem Teil der proletarischen Gegenkultur. Dabei sind die „Blümchenpflücker“ dort nicht überall gerne gesehen. Immerhin könnten sie die Proletarier doch auch von wichtiger Parteiarbeit, vom Klassenkampf abhalten. Andererseits organisieren die NaturFreunde bald Massenwanderungen in Gebiete, deren Betreten durch Privilegien hoher Herrschaften verboten ist. Ihre Wanderungen sind zugleich politische Demonstrationen für das freie Wegerecht aller Menschen. Die Idee der Gründer ist die des klassischen Arbeiterbildungsvereins, das Ziel ist der neue Mensch, der sich selbst in Solidarität mit seinen Brüdern und Schwestern aus der Unmündigkeit befreit.

NaturFreunde als Selbsthilfeorganisation
Für den Freizeitbereich stellen die NaturFreunde nicht nur Forderungen auf, sondern sie fungieren als Selbsthilfeorganisation: Mit den Naturfreundehäusern schaffen sie sich eigene Stützpunkte. Diese liegen meist in reizvoller Naturlage, sind durch Polizei schlecht zu überwachen, bieten Möglichkeiten für eine Mischung aus Naturerlebnis, Geselligkeit, Bildung und Politik. Krieg und Revolution ziehen auch die NaturFreunde in Mitleidenschaft und führen zu Mitgliederverlusten. Aber in der Weimarer Republik bieten das Erkämpfen von Achtstundentag, freiem Zugang zur Natur, bald bezahltem Urlaub ganz neue Perspektiven.

In den Zwanziger Jahren entsteht in den Naturfreundehäusern eine Art eigene Volkshochschule. Es bilden sich Fachgruppen, die zum Beispiel Fotokurse anbieten und entsprechende technische Einrichtungen zur gemeinsamen Nutzung anbieten. Auch im Wintersport und beim Bergsteigen bieten NaturFreunde Einstiegsmöglichkeiten für Facharbeiter, um Natursport betreiben zu können. Naturkunde wird groß geschrieben,
Sammlungen werden angelegt, Regeln zum Naturschutz gibt sich der „Touristenverein“ von Anfang an. Auch der Gedanke der Nachhaltigkeit wird früh aufgegriffen.

Das breite Betätigungsfeld der NaturFreunde bietet Platz für Naturschwärmerei, für Naturromantik, für solidarische Lebensweisen, die den neuen Menschen bilden wollen, um Ausbeutung und Profitlogik des Kapitalismus zu brechen, für Arbeitertourismus und Vereinsleben.

Das Faszinosum, was damit verbunden ist, kollektiv mit einem Naturfreundehaus etwas Eigenes geschaffen zu haben, führt dazu, dass sich Hunderte Ortsgruppen in das Abenteuer Hausbau stürzen – oft als Kristallisationspunkt von eigener Arbeitsleistung und Solidarität, allerdings nicht immer zum Vorteil der Organisation.

Die Vielfalt der Organisation, auch in ideologischer Hinsicht, sowie die Spaltung der Arbeiterbewegung führen aber schon Anfang der Dreißiger Jahre dazu, dass man unter einer NaturFreunde-Gruppe je nach Ort, je nach Gau etwas anderes verstehen kann. Der Faschismus allerdings macht keine Unterschiede, sondern zwingt alle NaturFreunde unter das Verbot als „marxistische Organisation“.

Nach der Befreiung im Jahr 1945 erhalten die NaturFreunde durch die Alliierten als eine der ersten Organisationen eine Zulassung für ihre Betätigung. Im Freizeitbereich starten sie oft konkurrenzlos und es gelingt ihnen, viele junge Menschen für Zeltlager, Musikgruppen und Volkstanz zu gewinnen.

Ab 1955: Repolitisierung der Organisation
Spätestens jetzt hält der bürgerliche Wandervogel Einzug in die Reihen der NaturFreunde. Zwar bleiben einige Köpfe aus der Weimarer Zeit, aber diese setzen auf Heimatschwärmerei, Freizeitangebote und Abstinenz von Politik, sie prägen das neue Gesicht der NaturFreunde. Aus dem Genossen wird der Wanderfreund.

Je nach Besatzungszone entwickeln sich nun die Landesverbände verschieden, erst ab 1955 beginnt auf Bundesebene eine Repolitisierung der Organisation. Die NaturFreunde propagieren wieder politische Forderungen wie die nach Arbeitszeitverkürzung, beteiligen sich an Aktionen wie der Besetzung von Bombenabwurfplätzen (Knechtsand) oder stellen die Frage nach dem Atomtod durch Atomwaffen (Ostermarsch) und Atomkraftwerke. Oft aber sind sich die NaturFreunde vor Ort selbst genug, organisieren ihre Freizeit nach wiederkehrenden Ritualen, Nachwuchs entstammt gerne der Familie.

Anknüpfend an die früheren Fachgruppen bilden Ortsgruppen zum Teil völlig unterschiedliche Profile aus. So gibt es Ortsgruppen, die ausgesprochene Fotogruppen sind, andere machen außer Skifahren nicht viel anderes. Wo man sich als Teil der Arbeiterbewegung versteht, ist man in dieses Milieu eingebunden. Gewerkschaft, Partei, AWO, NaturFreunde gehören in vielen Betrieben noch dazu wie die Sozialversicherung.

Mit der zunehmenden Individualisierung der Lebenslagen in den Achtziger Jahren verlieren diese Bindungen an Bedeutung. Die NaturFreunde suchen nach Orientierung, Modernisierungsversuche der Organisation scheitern am Widerstand der Beharrung auf der mittleren Ebene.

Starke Konkurrenz im Freizeitbereich
Nach dem Untergang der DDR gelingt den NaturFreunden die Wiederbelebung alter Stärke vor 1933 in den neuen Ländern nicht und der Aufbau eines Netzes von großen Naturfreundehäusern im Osten scheitert. Im Westen ist man gemeinsam älter geworden, ohne eine Antwort auf die neue gesellschaftliche Herausforderung der Individualisierung und der kommerziellen Konkurrenz im Freizeitangebot gefunden zu haben. Im Umweltbereich sind andere Verbände entstanden, haben sich modernisiert und gewinnen an Bedeutung. So steht man zu Beginn des neuen Jahrtausends organisationspolitisch vor einem Reformstau. Inhaltlich wird der Verband für Nachhaltigkeit propagiert. Als eine der ersten Organisationen widmen sich die NaturFreunde breit den Gefahren der Klimaveränderung und beginnen auch intern entsprechende Kampagnen in ihren Häusern umzusetzen. Fragen nach der großen Transformation statt der Wachstumsgesellschaft werden von der Spitze her thematisiert. Die NaturFreunde reklamieren die Notwendigkeit, in politischen Zusammenhängen zu denken, bleiben aber in ihrer Organisation allzu oft im beliebigen Klein-Klein des Alltags zwischen Naturfreundehaus und Nachwuchssorgen gefangen.

Grundlegende Reformen notwendig
Im Frühjahr 2014 formuliert der Bundeskongress der NaturFreunde erneut die Notwendigkeit von grundlegenden Reformen, wenn die Organisation als gesellschaftlich relevante Kraft in Deutschland wirken wolle. „Wie können wir ein gerechteres Leben gestalten? Was ist dazu unser spezifischer Beitrag als NaturFreunde?“ Von der Antwort auf diese Fragestellung hängt ab, wie es mit den NaturFreunden nach 120 Jahren weitergehen
wird.

Hans-Gerd Marian, Bundesgeschäftsfüher der NaturFreunde Deutschlands
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in NATURFREUNDiN 1-2015.

Weitere Bilder

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Alois Rohrauer, Gründungsmitglied
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Berliner Bergsteiger auf dem Großglockner (1929)
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Werbeplakat aus dem Jahr 1946
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Rote Fahnen am Strand
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Umweltdemo in den 70er-Jahren
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Bielefelder Wassersportler (1982)
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