Wie der Aufstieg der radikalen Rechten unter Arbeiter*innen aufgehalten werden kann
In der deutschen Arbeiterschaft findet sich eine Tiefengeschichte, die ähnlich funktioniert wie die sogenannte „deep story“ im „Rustbelt“, der ältesten und größten Industrieregion der USA: Viele Arbeiter*innen sehen sich in einer Warteschlange am Fuße des „Bergs der Gerechtigkeit“. Aber es geht nicht vorwärts. Dafür gibt es ständig neue Gründe, zum Beispiel die Globalisierung, die deutsche Einheit, die Eurokrise. Doch während man selbst wartete, ziehen andere vorbei – so das Empfinden. Etwa Geflüchtete, die „nur“ wegen ihres Traums von einem besseren Leben kommen.
Es gibt einen sozialpsychologischen Mechanismus, der auf eine subjektiv empfundene Abwertung antwortet, indem Selbstaufwertung mittels Abwertung anderer betrieben wird. Hinzu kommt: Teile der Arbeiterschaft neigen zu exklusiver Solidarität. Das heißt, sie sind solidarisch, aber häufig nur in den Grenzen der Stammbelegschaft und des eigenen Betriebs.
Daran knüpft die national-soziale Rechte an, die in der AfD inzwischen tonangebend ist. Ihr zufolge werde die neue Soziale Frage nicht mehr zwischen oben und unten ausgetragen, sondern sei ein Konflikt zwischen innen und außen, zwischen Deutschen und angeblich nicht integrierbaren Migrant*innen. Um der Linken ihr „Kronjuwel“ – die Soziale Frage – zu nehmen, brauche man nur diejenigen aufzusammeln, die scheinbar immer wieder durch den Rost fielen – kleine Selbstständige und Freiberufler*innen, aber auch prekär Beschäftigte sowie Arbeiter*innen und Angestellte mit kleinen Portemonnaies.
Diese Strategie hat in der Vergangenheit durchaus Erfolge gezeigt. In manchen Bundesländern, etwa in Brandenburg oder auch Baden-Württemberg, ist die AfD bei den letzten Landtagswahlen zur stärksten Partei bei Arbeiter*innen geworden. Allerdings lässt sich von den USA lernen, dass der Aufstieg der radikalen Rechten aufzuhalten ist. Denn auch wenn Donald Trump – an Stimmen gemessen – der erfolgreichste Präsident der Republikaner war, hat er in der Arbeiterschaft relativ an Stimmen eingebüßt. Es ist also kein Naturgesetz, dass Arbeiter*innen für die radikale Rechte stimmen.
Buchtipp
Klaus Dörre: Arbeiter*innen und die radikale Rechte; 355 Seiten; Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, 2020; ISBN 9783896910486; 30 Euro
Fünf Bausteine einer erfolgreichen Gegenstrategie scheinen mir dabei zentral. Erstens ist jede Form der politischen Anpassung an radikale Rechte falsch. Die Hoffnung, man könne der AfD das Wasser abgraben, indem man Sozialpolitik mit Migrationskritik verbindet und das als linken Populismus ausgibt, ist gescheitert. Rechtsaffine Arbeiter*innen wählen lieber das Original. Zweitens ist es fahrlässig zu glauben, Klimawandel und ökologische Krise seien nur etwas für privilegierte Gruppen. Der ökologische Gesellschaftskonflikt hat längst das Herzstück der deutschen Industrie erreicht. Allein die Umstellung auf E-Mobilität könnte hierzulande bis zu 300.000 Arbeitsplätze kosten.
Wie eine zukunftstaugliche Gegenposition aussehen kann, haben drittens „Democratic Socialists“ – die Demokratischen Sozialisten Amerikas (DAS) – wie die US-Abgeordente Alexandria Ocasio-Cortez gezeigt. Sie verlangen einen progressiven Green New Deal mit einer radikalen Dekarbonisierung der Wirtschaft, Beschäftigungsgarantien für alle, die in den Fossilbranchen ihre Jobs verlieren und Umverteilung zugunsten derer, die sich langlebige Güter aus nachhaltiger Produktion mit ihren geringen Einkommen nicht leisten können. Neue Jobs durch den sozialökologischen Umbau sind ein weiteres Kernelement.
Daraus folgt viertens, dass es auf die Gewerkschaften ankommt. Dass gegenwärtig überdurchschnittlich viele Arbeiter*innen und Gewerkschaftsmitglieder AfD wählen, darf man ihnen nicht zum Vorwurf machen. Die Gewerkschaften sind häufig die einzige demokratische Organisation, die diese Gruppen überhaupt noch erreichen. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Es gilt Gewerkschaften und Betriebsräte zu ermutigen, den Kampf gegen die radikale Rechte auch in den Betrieben aufzunehmen.
Dafür gibt es fünftens Anknüpfungspunkte. Die beginnen bei der inneren Widersprüchlichkeit der radikalen Rechten, die sich zum Beispiel beim Ringen des national-sozialen Flügels mit der marktradikalen Strömung offenbart. Demgegenüber votiert die große Mehrzahl vor allem der Gewerkschaftsfrauen für Parteien im Spektrum von Rot-Rot-Grün. Sie sind offen für eine sozial-ökologische Nachhaltigkeitsrevolution.
Diese Strömungen innerhalb der von Löhnen abhängigen Klassen gilt es zu stärken – durch politische Bildung mit langem Atem, neue Bündnis mit den Klimabewegungen und nicht zuletzt intelligent geführte Wahlkämpfe, die sich nicht an der AfD abarbeiten, sondern jene Zukunftsprobleme ins Zentrum rücken, die dringend gelöst werden müssen. Die Systemfrage darf nicht den radikalen Rechten überlassen werden.
Klaus Dörre
Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena und Mitglied der NaturFreunde Deutschlands