Geschichte der Lebensreform in Deutschland

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Große Transformationen bringen Unsicherheit mit sich und ein verunsichertes Bürgertum oder wenigstens seine Kinder suchen nach Orientierung. Bietet sich eine Lichtgestalt mit Sendungsbewusstsein an, folgen Jüngerinnen und Jünger wie Motten dem Licht.

Karl Wilhelm Dieffenbach war eine solche Lichtgestalt, stellte sich schon als Jugendlicher zum Lichtgebet auf, um frische Luft um seinen „der naturwidrigen Futterale entkleideten Körper“ wehen zu lassen. Er war Aktionskünstler und Kommunarde, erregte sich über „Schweinskadaverwürste“ verzehrende Mitmenschen, nährt seine Kinder mit der neu entwickelten „Mandelmilch“ und starb 1913 als Vegetarier an einem Darmverschluss. Einer seiner Jünger, der völkische Jugendstilkünstler Höppener, genannt Fidus (Der Getreue), malte das berühmte Bild „Lichtgebet“, das heute im Deutschen Historischen Museum hängt.

Neue Suchbewegung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand eine Suchbewegung der sogenannten Lebensreform, eine „Gebildetenrevolte“ (Ulrich Linse) gegen die Zumutungen des sich voll entfaltenden Kapitalismus. Die Bürgerkinder suchen den Sinn des Lebens und setzen bei ihren alltäglichen Verrichtungen an. Kleidung und Ernährung wurden Schlüssel zum richtigen Leben, es ging um „Selbstreform“. Das hatte gelegentlich aberwitzige Züge, wenn die Jünger einer Kokusnussdiät ihr Experiment auf einer zum damaligen deutschen Kolonialreich gehörenden Südseeinsel nach kurzer Zeit aus Mangelernährung mit dem Leben bezahlten. Auf der anderen Seite wurden „Reformhäuser“ gegründet, in denen man heute noch einkaufen kann, enstanden „Lichtbäder“, die heute noch eine Funktion in der Großstadt haben. Landkommunen standen hoch im Kurs, vor allem bei Berlinern, und hier trafen sich vor 1914 auch vereinzelt Kommunarden aus dem anarchistischen und sozialistischen Spektrum (Kolonie Eden).

In der Weimarer Republik aber trennten sich lebensreformerische Ansätze klar von Elementen, die zum Beispiel bei den NaturFreunden aufgegriffen wurden, denen es aber um die Bildung des klassenbewussten Menschen ging und die den Kapitalismus überwinden wollten (und wollen). Siedlungsbewegungen spielten in der Arbeiterschaft dann eine Rolle, wenn wirtschaftliche Notlagen zur Selbstversorgung zwangen. Im sozialdemokratischen „Verband Volksgesundheit“ organisierten sich zum Beispiel mehr als 60.000 Mitglieder. Lebensreformerische Ansätze, vermischt mit Esoterik, eröffneten ganz andere Anschlussmöglichkeiten im rechten Spektrum. Völkische Lebensreformer erlebten die Stadt als „jüdisch, degeneriert und demokratisch im negativen Sinne, und daher dem eigentlichen Germanen fremd.“

Demeter im KZ
Als Heinrich Himmler von Alwin Seifert (später Bund Naturschutz) einen Demeter-Garten im KZ Dachau anlegen ließ, hatten die Blut-und-Boden-Ideologie und die Massenorganisationen des NS-Staates alles Verwertbare aus der Lebensreform aufgesogen.

Heute erleben wir erneut lebensreformerische Ansätze wie den Veganismus, wenn auch in stark kommerzialisierter Form. Gedanken einer „Gemeinwohlökonomie“ mit Anlehnung an die „natürliche Wirtschaftsordnung“ (1916) des Vegetariers und Bodenreformers Silvio Gesell und eine „Solidarische Landwirtschaft“ sprechen nicht nur junge Menschen an, die erneut verunsichert auf die Zumutungen einer Transformation zum globalen Turbokapitalismus reagieren und an der „Selbstreform“ werkeln. Einige betätigen sich aber auch als völkische Siedler in Landkommunen ganz anderer Art, um ihre „Identität“ zu verteidigen. Die historischen Bezüge dürften den wenigsten bewusst sein. Wer eine gute Überblicksdarstellung sucht, wird fündig in diesem neuen Buch von Bernd Wedemeyer- Kolwe.

Bibliografie
Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch! Die Lebensreform in Deutschland; 208 Seiten mit Illustrationen; Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt, 2017; ISBN 9783805351119; 23,99 Euro.

 

 

 

 

Hans-Gerd Marian