Vom lebendigen Fluss zum genormten Kanal

Der einzige Auwald-Nationalpark Deutschlands könnte für immer zerstört werden

© 

Bei uns findet das Flussneunauge beste Lebensbedingungen“, sagt Michael Tautenhahn, stellvertretender Leiter des Nationalparks Unteres Odertal. Genauso wie Aland, Rapfen oder Bitterlinge – äußerst seltene Fischarten, die es hier noch gibt. „Wenn Polen seine Pläne zum Ausbau der Oder umsetzt, dann wird das den Nationalpark Unteres Odertal dauerhaft schwer beschädigen“. Und damit die Lebensbedingungen der Fische.

Die Oder, der Grenzfluss zu Polen, soll ausgebaut werden. Das bedroht auch 2,5 Millionen Jungtiere des Baltischen Störs, die seit 2007 in brandenburgischen Gewässern ausgesetzt wurden. Störe können bis zu 60 Jahre alt werden, in der Ostsee waren sie ausgestorben. Tautenhahn: „Unser Wiederansiedlungsprogramm könnte Früchte tragen: Wir erwarten die ersten Tiere nach ihrer Reise in die Ostsee hier zum Laichen zurück.“ Auch um Vogelarten wie den Flussregenpfeifer geht es, um Wachtelkönig und Seggenrohrsänger. „Von dem gibt es in Deutschland nur hier bei uns Brutkolonien.“  „Noch“, sagt Michael Tautenhahn.

Der Nationalpark Unteres Odertal ist eine Reise wert. Der Oder-Neiße-Radweg führt am westlichen Rand vorbei, das Besucherzentrum befindet sich im Nationalparkhaus in Criewen: www.nationalpark-unteres-odertal.eu

Auenzustandsbericht www.kurzelinks.de/auenzustand

Milliarden Euro von der Weltbank

Jene Bäuer*innen, die nach der Wende ihre Wiesen wieder zurückbekommen hatten, wollten sie bei der Nationalpark-Gründung nicht schon wieder hergeben. Auch heute gibt es noch viele Polder – eingedeichte Flächen, die bewirtschaftet und deshalb nicht geflutet werden. Mittlerweile steht aber stolz „Nationalpark-Gemeinde“ am Ortseingang des Dorfes Criewen, es gibt eine „Nationalpark-Buslinie“, die Übernachtungszahlen steigen. Ausgerechnet jetzt, wo der Nationalpark zur Erfolgsgeschichte werden könnte, droht ihm sein endgültiges Ende: Die Oder soll ausgebaut wer-den, Polen hat die Umweltverträglichkeit der Pläne bereits geprüft. Zwar hat das Land Brandenburg Einspruch gegen den Beschluss erho-ben. Trotzdem hat die deutsche Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt – mit Sitz im brandenburgischen Eberswalde – ihrerseits im Februar eine Umweltprüfung zum Oderausbau eingeleitet. Deshalb, so bewerten es Expert*innen, könnten die Bagger in diesem Jahr am Grenzfluss rollen.

Angefangen hatte alles nach dem Oderhochwasser 1997 mit der Weltbank: Polen bekam umfangreiche Mittel zum Hochwasserschutz bewilligt. Ein Plan war, das verfallene Poldersystem mit den alten Deichen der Oder südlich von Szczecin (Stettin) wieder aufzubauen. Im Zweiten Weltkrieg waren sie zerstört worden, in der Folge entwickelte sich zwischen Ost- und Westoder ein großartiges Feuchtbiotop, das nun wieder eingedeicht werden sollte.

„Allerdings konnten die Polen nicht nachweisen, dass neue Deiche Stettin tatsächlich besser gegen Hochwasser schützen“, sagt Tautenhahn. Damit waren die Flussbaupläne vom Tisch. Dachten die Naturschützer*innen. Tatsächlich aber erarbeitete die „Bundesanstalt für Wasserbau“ in Karlsruhe 2014 im Auftrag der polnischen und deutschen Schifffahrtsverwaltungen ein „Stromregulierungskonzept“ für die Oder. „Eine Verbesserung des ökologischen Potenzials der Grenzoder“, heißt es in dem Papier, sei bei der Erarbeitung „kein definiertes Ziel“. Die Bundesanstalt solle vielmehr sicherstellen, dass der in Tschechien entspringende Fluss tiefer für die Schifffahrt wird: Im unteren Bereich soll die Oder zu 80 bis 90 Prozent eines Jahres 1,80 Meter Wassertiefe ausweisen. Dafür soll der Fluss neue Buhnen bekommen, mit einer „Neigung von 1:10, beidseitig“, wie es im „Stromregulierungskonzept“ heißt. Buhnen: Das sind jene Steinschüttungen, die wie Stacheln in den Fluss ragen und – vereinfacht gesagt – die Oder an den Rändern bremsen und in der Mitte beschleunigen. Durch dieses neue Korsett werde der Fluss schneller fließen, sich so selbst tiefer eingraben und damit fast ganzjährig schiffbar.

Naturschützer reagierten entsetzt. „Ausgerechnet jetzt, wo sich der Nationalpark endlich etabliert, soll ihm durch die Stromregulierung der Garaus gemacht werden“, sagt Carsten Preuß, Chef des BUND Brandenburg. „Unter dem Motto 'Hochwasserschutz' kanalisiert das Projekt die Oder für die Binnenschifffahrt, zerstört die Natur und verschlechtert so die Hochwassersicherheit“, erklärt Radosław Gawlik von Polens „Ökologischem Verband EKOUNIA“. Rocco Buchta, Fluss-Experte des Naturschutzbundes NABU: „Die Europäische Wasserrahmenrichtlinie schreibt vor, Flüsse in einen guten ökologischen Zustand zu bringen. Die Ausbaupläne erreichen das Gegenteil.“ Deshalb gehe es um mehr als „nur“ Flussneunauge, Wachtelkönig oder Stör.

Umweltverträglichkeit erteilt

In seinem Büro kramt Michael Tautenhahn Luftbildaufnahmen eines Uferstücks der polnischen Seite hervor: „Hier wurde schon mal probehalber gebaut.“

Die Buhnen sind mit einer Art Mauer verbunden, der Zwischenraum mit Sand verfüllt. „So machst du aus einem lebendigen Fluss einen genormten Kanal“. Nicht, dass die Oder nicht auch heute schon durch Buhnen reguliert wäre. „Das derzeitige Buhnensystem ist aber genau das, was hier noch so eine reiche Artenvielfalt erhalten hat“, sagt der Fischereiingenieur. An manchen Stellen sorgen die Buhnen für eine starke Strömung, Strudellöcher entstehen, die im Winter nicht zufrieren, hier können Fische überwintern. Andererseits gibt es Schlammbänke mit geringer Strömung – wichtig für die Kinderstube seltener Arten. Die Flussvertiefung werde unmittelbare Auswirkungen auf die Auenwildnis haben, vor allem im Sommer: „Die letzten Jahre waren bei uns durch extreme Niedrigwasserphasen geprägt. Wenn die Oder dann tiefer fließt, zieht sie das letzte Wasser aus den Auen.“

2020 erteilte die polnische Behörde eine Ge-nehmigung der Umweltverträglichkeit, allein auf Höhe des Nationalparks sollen 65 Buhnen neu gebaut werden. „Wir haben dagegen Widerspruch eingelegt“, erklärt ein Sprecher des brandenburgischen Umweltministeriums. Denn die Prüfung der Umweltverträglichkeit habe nur die kurzfristigen Schäden begutachtet, nicht aber die Langzeitfolgen. Aber warum sollte Polen seine Pläne korrigieren, wenn die deutschen Behörden nun dasselbe Ziel verfolgen? Theoretisch könnte Brandenburg bei der EU gegen die polnischen Pläne klagen. Aber solch eine Klage müsste die Bundesregierung unterstützen und das ist äußerst fraglich: Die deutsch-polnischen Beziehungen sind wegen des europäischen Rechtsstaatsmechanismus derzeit ohnehin stark angespannt. Nicht nur im Nationalpark soll die 162 Kilometer lange Grenzoder ausgebaut werden, auch bei Frankfurt, bei Küstrin und südlich von Schwedt. „Jeder Euro ist gut investiert“, sagt Kapitän Leszek Kiełtyka.

Fünf Schubkähne und zwei Motorfrachtschiffe gehören seiner Firma. Seit 40 Jahren befährt er die Oder, im Ausbau sieht er die Zukunft seines ganzen Berufsstandes. Nach dem polnischen „Schifffahrtsentwicklungsplan“ soll die Fracht auf rund 28 Millionen Tonnen Güter im Jahr nahezu verdoppelt werden. Beata Szydło, damals Polens Premierministerin, erklärte 2017: „Die Entwicklung von Binnenschifffahrt, Häfen und Werften sind Prio-ritäten der polnischen Regierung.“

Für das „Odra-Vistula Flood Management Project“ stehen insgesamt 1,202 Milliarden Euro zur Verfügung, darunter 460 Millionen von der Weltbank. Auch die EU trägt zur Finanzierung bei. Polnische Umweltschützer*innen halten dagegen, dass die Eisenbahn problemlos doppelt so viele Güter wie die Binnenschiffe auf der Oder transportieren könnte. „Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass die Regierung mit öffentlichen Mitteln einen künstlichen Wettbewerb für die polnische Staatsbahn schafft, die im Laufe der Jahre modernisiert und subventioniert wurde“, heißt es in einer Stellungnahme der „Koalicji Ratujmy Rzeki“, der „Koalition Rettet die Flüsse“. Auch diese hat angekündigt, gegen die Pläne vor europäische Gerichte ziehen zu wollen.

Jetzt trommeln auch deutsche Umweltschützer*innen gegen den Ausbau. Im März forderten sie von der Europäischen Kommission, von der Weltbank, aber auch von den Regierungen in Polen und Deutschland, das Projekt zu stoppen: Menschen und Umwelt müssten „vor den zerstörerischen Auswirkungen des Ausbaus geschützt werden“. Zu den Unterzeichnern gehören neben den NaturFreunden zum Beispiel auch der WWF, die Grüne Liga, der Deutsche Kanuverband oder Wissenschaftler wie Prof. Michael Succow. Die NaturFreunde Internationale hatte das von der Oder durchflossene Lebuser Land zur „Landschaft des Jahres 2003/04“ gekürt.

Anzeichen, dass der noch relativ naturbelassenen Oder das Schicksal anderer Flüsse in Deutschland erspart bleibt, gibt es leider nicht: Gebaut wird der nächste fließende Normkanal.

Nick Reimer