Ein NaturFreunde-Positionspapier, beschlossen vom 31. Bundeskongress
Paul Crutzen, der 1995 für die Erforschung des Ozonabbaus mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde, forderte bereits im Jahr 2000 ebenso wie Eugene F. Stoermer, die heutige Erdepoche nicht länger Holozän, sondern Anthropozän zu nennen – „das menschlich gemachte Neue“. Am Beispiel des Klimawandels zeigte Crutzen auf, dass die Menschheit zum bestimmenden Faktor geo-ökologischer Prozesse geworden ist. Die Geologie der Menschheit macht sogar die Selbstzerstörung der Zivilisation durch die Schädigungen am Erdsystem denkbar, von „besiegter Natur“ ist die Rede. Ein Ende der menschlichen Zivilisation wird vorstellbar. Der 34. Weltkongress der Geologen hat nach Prüfung durch die zuständige Stratigraphische Kommission den Vorschlag zur Annahme empfohlen. Offen ist allerdings noch der genaue Beginn der neuen Erdepoche.
Die systematische Entfaltung der technischen und ökonomischen Produktivkräfte seit der Industriellen Revolution war nicht nur für die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch für die Natur ein tiefer Einschnitt, dessen Folgen heute in aller Schärfe deutlich werden. Sie zeigen sich nicht nur in lokalen oder regionalen Schädigungen und Zerstörungen, sondern gefährden die Lebensverhältnisse auf der Erde insgesamt. Die gemäßigte Warmzeit der letzten 12.000 Jahre, das Holozän, in dem die menschliche Zivilisation sich entwickeln konnte, ist unwiderruflich vorbei. Der Anstieg der Treibhausgase, die Eingriffe der Agrarindustrie, die Übersäuerung der Meere oder die fortdauernde Vernichtung der Biota sind bleibende Veränderungen. Die weitere Entwicklung baut auf anthropogen verschobenen Beständen auf.
Der Mensch erschafft neue Landschaften, greift in das Weltklima ein, leert die Meere, erzeugt neuartige Lebewesen. Aus der Umwelt wird eine „Menschenwelt“ – doch die ist geprägt von Kurzsichtigkeit und Raubbau. Dabei kommen drei große ökologische Herausforderungen zusammen, die sich wechselseitig verstärken:
- die Überlastung der natürlichen Senken,
- die Zerstörung der biologischen Vielfalt und
- der Raubbau an den endlichen Rohstoffen.
Die Menschheit ist in ein Zeitalter eingetreten, für das in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung zu finden ist. Aus der in den 1970er-Jahren noch weitgehend theoretischen Debatte über die Grenzen des Wachstums ist harte Realität geworden. Damit stellen sich auch die sozialen Verteilungskonflikte, die vor allem den Kapitalismus prägen, in neuer Schärfe. Der Schutz der sozialen und natürlichen Mitwelt erfordert eine sozial-ökologische Gestaltung der Transformation – nicht nur durch die Ökologisierung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, sondern auch durch weitreichende Änderungen im Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, mehr Gerechtigkeit und eine faire Umverteilung auch in der primären Verteilung, mehr Aufklärung, Vernunft und Verantwortung sowie durch mehr Demokratie und Beteiligungsrechte.
Die Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung muss den kurzfristigen ökonomischen Verwertungszwang beenden und zu einer Ökonomie des Bewahrens der natürlichen Mitwelt und des Vermeidens hoher Energie- und Ressourceneinsätze werden. Das Ziel ist eine Welt, in der es weder Mangel noch Überfluss gibt. Ein gutes Leben ist wichtiger als immer mehr zu haben.
Die unvollendete Moderne
Die drei wichtigsten Herausforderungen im Anthropozän sind:
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Die Korrektur der europäischen Moderne, deren Fehler sich vor allem in der Ausbeutung der Natur zeigen. Durch die Naturvergessenheit wurde der Gegensatz Mensch – Natur radikalisiert. Der französische Aufklärer René Descartes forderte, dass der Mensch Herr und Besitzer der Natur mittels der methodischen Anwendung von Wissenschaft und Rationalität werden müsse. Geist und Denken einerseits und Natur andererseits wurden als Gegensätze hingestellt: Einerseits das Immaterielle, das allein dem Menschen gehört, und andererseits das Materielle, das uns umgibt und in das Bild einer Maschine gefasst wurde. Descartes sah selbst in Tieren bewegte Maschinen, die wie ein Uhrwerk funktionierten. Die Natur wurde zur Ressource menschlicher Zwecke. Francis Bacons Forderung, man müsse auf der Folterbank der Natur ihre Geheimnisse entreißen, ebnete den Weg zu einem Naturverständnis, das den Menschen über die Natur stellt. Diese Entgegensetzung beinhaltet eine tiefe Entfremdung.
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Die Industrielle Revolution hat eine technisch-ökonomische Dynamik ausgelöst, die einerseits eine Selbstproduktion der Gesellschaft möglich macht. Das ist die Grundlage für die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, die allerdings durch die Komplexitäten und Fernwirkungen immer anspruchsvoller wird. Die Moderne löst einen sozialen und kulturellen Wandel aus, der die Anschlussfähigkeit zwischen Individuum und Gemeinschaft immer wieder auflöst. Damit stellt sich andererseits die Frage, ob die immer weitergehende Ausdifferenzierung, Beschleunigung und Entgrenzung von Zeit und Raum, die die Entwicklung der modernen Gesellschaft prägt, fortgesetzt werden kann? Oder ob im Gegenteil Mechanismen der Entschleunigung, Dezentralisierung, Ganzheitlichkeit und Kreislaufführung notwendig sind, um das Hauptziel der europäischen Moderne, die Idee der sozialen Emanzipation der Menschen in Solidarität und Freiheit, zu bewahren und zu erweitern?
- Der dritte tiefe Einschnitt ist die Entbettung der kapitalistischen Ökonomie aus gesellschaftlichen Bindungen, die mit der Industriellen Revolution begann und die sich heute durch die Globalisierung der Märkte und die Digitalisierung der Welt zuspitzt. Aber die Delegitimierung der Demokratie durch die globale Arbitrage ist kein Naturgesetz, sondern politisch ermöglicht worden. Die Ursache liegt in der Entbettung der Märkte. Und das wiederum führt zu Gegenbewegungen, die sich in autoritären, gewaltsamen Formen entladen können. Neue Formen der Einbindung sind notwendig.
Angetrieben von den ökonomischen Verwertungszwängen und expressiven, modularen Konsumformen mündet die Pfadabhängigkeit des „extensiven wirtschaftlichen Wachstums“ (Richta-Report der Prager Akademie der Wissenschaften) in der Selbstgefährdung moderner Gesellschaften. Die unvollendete Moderne hat sich durch die einseitige Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum und technischen Fortschritt von ihrem Hauptziel, der sozialen Emanzipation der Menschen, entfernt.
In „Haben oder Sein“ beschrieb Erich Fromm die „große Verheißung des unbegrenzten Fortschritts“ als das „Ende einer Illusion“: „Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte. ... Und obwohl dies nur für die Mittel- und Oberschicht galt, verleiteten deren Errungenschaften andere zu dem Glauben, die neue Freiheit werde schließlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zu Gute kommen, wenn die Industrialisierung nur in gleichem Tempo voranschreite.“
Globalisierung der Umweltzerstörung
Ob in der Chemie und Dynamik der Atmosphäre, im Wasserkreislauf, in der Artenvielfalt und der Fruchtbarkeit der Böden – die stärksten Veränderungen sind jüngeren Datums. In keinem dieser Bereiche wurde zu Beginn des letzten Jahrhunderts mehr als ein Drittel der heutigen Schädigungen festgestellt. Die Menschheit brauchte nur 52 Jahre, um die Zahl der Menschen von 3,5 Milliarden 1967 auf heute fast acht Milliarden zu steigern. Der Energieeinsatz hat sich in diesem Zeitraum nahezu vervierfacht, noch stärker stiegen die Kohlendioxidemissionen an. Die Naturzerstörung hat eine bedrohliche Dimension angenommen.
Der anthropogene Klimawandel: Mit dem Klimawandel hat die Menschheit ein beispielloses Experiment mit der Belastbarkeit unseres Planeten begonnen. Die Konzentration der Treibhausgase – bezogen auf CO2 – hat bereits fast 420 parts per million (ppm) erreicht. Bei 430 ppm beträgt die Erderwärmung 1,5 Grad Celsius, die heute nicht mehr zu verhindern ist. Um 2065 ist ein Anstieg auf ca. 2 Grad Celsius zu erwarten. Die Auswirkungen werden in erster Linie für die ärmsten, oftmals ökologisch empfindlichsten Regionen der Erde katastrophal sein. Dagegen können die reichen Industriestaaten noch längere Zeit im Zustand der „Grenzüberziehungen“ bleiben, weil die Hauptverursacher*innen der anthropogenen Erderwärmung nicht die Hauptbetroffenen sind. So wird beispielsweise der afrikanische Kontinent besonders stark vom Klimawandel betroffen werden, obwohl er nur mit weniger als vier Prozent an den Treibhausgasemissionen beteiligt ist.
Trotz des UN-Klimarahmenvertrages, der seit 1992 die Weltgemeinschaft verpflichtet, die Emissionen zu senken, haben sich die CO2-Emissionen in den letzten 28 Jahren nahezu verdoppelt. Im Jahr 2018 erreichten sie den bisher höchsten Zuwachs überhaupt. Auch Trinkwasser, das wichtigste Lebensmittel der Menschen, wird in weiten Teilen Asiens und Afrikas knapp. Der Klimawandel macht die Versorgung noch schwieriger. Erderwärmung, übernutzte Böden und Wasserknappheit verursachen Hungerkatastrophen und zwingen viele Menschen zur Migration.
Zerstörung der Biodiversität: Die Zerstörung der Natur schreitet immer schneller voran. Nur gesunde Ökosysteme können Nahrung, Rohstoffe, Trinkwasser, saubere Luft, fruchtbare Böden und ein stabiles Klima liefern. In der Europäischen Union (EU) hängen rund sieben Prozent aller Arbeitsplätze von der Stabilität der biologischen Vielfalt ab. Der Mensch greift jedoch massiv in die Biosphäre ein. Jährlich gehen zwischen 20.000 bis 50.000 Quadratkilometer Landflächen allein durch Bodenerosion verloren. Der Mensch hat die natürliche Aussterberate um das Hundert- bis Tausendfache erhöht.
Endlichkeit der Ressourcen: Mit Peak Oil, dem Höhepunkt der Ölförderung, zieht eine weitere große Bedrohung herauf. Die Industriegesellschaft ist von Öl so abhängig wie der Süchtige von der Nadel. Ohne Öl wären die Massenmotorisierung, die globale Arbeitsteilung und der modulare Konsum in der heutigen Form nicht denkbar geworden. Doch das Ende der Ölzeit rückt näher. Seit 2008 kommt die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris zu dem Ergebnis, dass das Plateau der Ölförderung erreicht ist und die Produktion nicht weiter gesteigert werden kann. Aber selbst bevölkerungsreiche Schwellenländer, insbesondere China und Indien, stehen erst am Beginn der Massenmotorisierung. So wächst die Gefahr von Verteilungskonflikten, aus denen Ressourcenkriege werden können.
Fracking heißt das vermeintliche Zauberwort für angeblich mehr Erdöl und Erdgas. Mittels hydraulischer Stimulation der Erdschichten durch eine chemische Flüssigkeit wird die Durchlässigkeit von Gesteinsschichten hergestellt, so dass Fluide zur Bohrung fließen. Der Hype um Light Tight Oil ist Selbstbetrug. Die Mengen, die äußerst umweltschädlich erzeugt werden, könnten nur für wenige Jahre genutzt werden, aber auch nur dann, wenn dafür Umwelt- und Naturschutzgesetze außer Kraft gesetzt und große Schädigungen hingenommen werden.
Planetarische Grenzen: Das Wissenschaftler*innenteam unter der Leitung des schwedischen Umweltforschers Johan Rockström hat das Konzept der planetarischen Grenzen (planetary boundaries) entwickelt. In neun zentralen Umweltdimensionen wurden die Grenzen der Belastbarkeit untersucht: In drei davon – Klimawandel, Stickstoffkreislauf und Aussterberate von Arten – sind die planetarischen Grenzen deutlich überschritten. In drei Dimensionen – Aragonit-Sättigung in Oberflächenwasser, globaler Süßwasserverbrauch und Ackerland – wird die Situation in absehbarer Zeit kritisch. Nur bei der stratosphärischen Ozonkonzentration hat sich die Lage verbessert, weil es nach dem dramatischen Abbau der Ozonschicht Ende der 1980er-Jahre zum Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW) und Halonen kam. Zwei Dimensionen – atmosphärische Aerosole und Belastung durch Chemikalien – konnten bisher nicht hinreichend bewertet werden.
Welterschöpfungstag: Die expansive Nutzung des Naturkapitals ermöglicht zwar einen Wirtschafts- und Lebensstil, der den Industrie- und Ressourcenstaaten einen enormen Wohlstand ermöglicht hat, aber dadurch wird die Tragfähigkeit der Erde weit überschritten. Im Jahr 2021 wurde der „Welterschöpfungstag“ bereits Ende Juli erreicht. Faktisch nutzt die Menschheit bereits 1,75 Erden. Das belegt der „ökologische Fußabdruck“ (Ecological Footprint), eine Berechnungsgröße, die 1994 von Mathis Wackernagel und William Rees entwickelt wurde. Er erfasst die Fläche, die notwendig ist, um Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen bezüglich Produktion, Konsum, Energie, Material, Mobilität sowie die erzeugten Emissionen und den Müll dauerhaft naturverträglich zu erhalten. Der globale ökologische Fußabdruck ist heute 2,7-mal höher als mit dem Erdsystem verträglich, in den USA wären das hochgerechnet für die Erde sogar 7,2-mal und in Deutschland 4,6-mal.
Auch wenn coronabedingt der Welterschöpfungstag stagniert beziehungsweise leicht rückgängig ist, so ist der Trend ungebrochen. Im Jahr 2000 lag er noch im November eines Jahres. Die Zerstörung der Biomasse der Erde und die Belastung der Öko-System sind ungebrochen.
Die überlastete Erde: Gegenüber der Industriellen Revolution (ca. 1800) hat sich die Weltbevölkerung nahezu verzehnfacht, der Ressourcenverbrauch pro Kopf fast verzwanzigfacht und die Eingriffstiefe in die Stoffkreisläufe bis zum Hundertfachen erhöht. Angesichts des hohen Bevölkerungswachstums, der nachholenden Industrialisierung der Schwellenländer und des immer noch steigenden Wohlstands in den Industriestaaten nimmt die Nachfrage nach natürlichen Ressourcen weiter stark zu. Zugleich vergrößern sich die sozialen Ungleichheiten in den Gesellschaften – im Norden wie im Süden.
Die hier aufgezeigten Fakten belegen: In ihrem maßlosen Beschleunigungs- und Wachstumswahn stößt der Verwertungszwang ungeregelter Marktwirtschaften an naturbestimmte, auf jeden Fall naturabhängige Grenzen. Durch die Übernutzung des Naturkapitals werden Naturschranken überschritten, die nicht überschritten werden dürfen. Denn die natürlichen Ressourcen sind unverzichtbare materielle, energetische und räumlich-ästhetische Grundlage des menschlichen Lebens. Damit werden die Voraussetzungen des menschlichen Lebens zerstört.
Unsere Antwort – die sozial-ökologische Gestaltung der Transformation
Seit den 1970er-Jahren zeigen sich die Folgen der jahrhundertealten Naturvergessenheit immer deutlicher. Das quantitative Wirtschaftswachstum wurde mit Wohlstand und Beschäftigung legitimiert. Der Natur- und Umweltschutz wurde dagegen als Wachstum bremsend abgetan. Doch die außergewöhnliche Wachstumsperiode der Nachkriegszeit endete in Westdeutschland in den 1970er-Jahren. Der kurze Traum von der immerwährenden Prosperität (Burkart Lutz) war vorbei.
Dennoch setzte sich ein ökonomisches Einheitsdenken durch, das von betriebswirtschaftlichen Kriterien ausgeht, die im Zuge der Ökonomisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auf alle Lebensbereiche übertragen werden sollten – was in sehr vielen Bereichen auch geschah. Die Tragweite des beginnenden Umbruchs wurde nicht oder nur langsam erkannt. Statt zu einem neuen Modell von Fortschritt und Entwicklung zu kommen, wurde mit immer neuen, aber höchstens befristet wirksamen Maßnahmen auf unterschiedliche Krisen reagiert, um wieder zu einem höheren Wachstum zu kommen.
Vor diesem Hintergrund ist auch der Aufstieg des Finanzkapitalismus zu sehen. Der Rückzug der Politik aus der Steuerung der Wirtschaft durch den keynesianischen Wohlfahrtsstaat begann mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und setzte sich in den 1980er-Jahren durch. Das Nachkriegssystem hatte den entscheidenden Konstruktionsfehler, die Stabilität der Währungen an den US-Dollar zu koppeln, der als Leitwährung des Weltwährungssystems funktionieren sollte. Neben der Dominanz des Dollars gehörten auch fehlende Mechanismen in der Zahlungsbilanzanpassung, gegen Handelsbilanzüberschüsse und die Starrheit fester Wechselkurse zu den Mängeln des Systems.
Als Frankreich 1971 seine Dollarreserven in Gold eintauschen wollte, wären die USA praktisch pleite gewesen. US-Präsident Richard Nixon kündigte die Verpflichtung auf, Dollar in Gold einzulösen. Washington wollte die hohen Kosten des Vietnam-Krieges nicht bezahlen, sondern sie auf andere Volkswirtschaften abwälzen. Spekulatives Kapital floss nach Europa.
1973 katapultierte die Krise ausgerechnet die Geldpolitik an die Spitze der Wirtschaft. Die Geschäftsbanken übernahmen das Kommando, die Wall Street die Regie über die Weltwirtschaft. Mit der Liberalisierung der Kapitalmärkte trieben die Finanzinstitute die Unternehmen mit übersteigerten Gewinnerwartungen vor sich her. Die Finanzdienstleistungen verselbstständigten sich. Deregulierung und Privatisierung sowie der Aufstieg des Neoliberalismus und die Schwächung des öffentlichen Sektors verschärften die Krise.
Nach der Inflationierung der Weltwirtschaft kam es zu einer hohen Verschuldung der öffentlichen Haushalte, zu steigenden Sozialkosten und zahlreichen Konjunkturprogrammen. Darauf folgte eine Politik des billigen Geldes und zuletzt kam es zur bewusst geförderten privaten Verschuldung, die 2008 in den USA in die Subprime-Krise führte und die globale Finanzkrise auslöste. Im Internationalen Währungsfonds (IWF) und in der Weltbank setzten die USA den Washington-Konsens durch, der die Weltwirtschaft auf neoliberalen Kurs trimmte. Dieser ökonomische Kolonialismus schlug mehr oder minder auf alle Volkswirtschaften durch, sicherte die Interessen der Banken und baute deren Macht weltweit aus.
Vor diesem Hintergrund ist die heutige Transformationsdebatte zu sehen. Sie muss die drei gewaltigen Herausforderungen – wirtschaftliche Krisenhaftigkeit, soziale Ungleichheit und ökologische Zerstörung – in einem Zusammenhang sehen, der sich über einen längeren Zeitraum aufgebaut hat. Die Gestaltung der Transformationsprozesse wird nur möglich, wenn die Demokratie erweitert wird und das Projekt der sozialen Emanzipation ins Zentrum der Politik rückt.
Das ist die große Chance des Anthropozän-Konzepts. Es rückt die Rolle des Menschen ins Zentrum. Wir müssen alles tun, dass er nicht der Zerstörer der Zivilisation ist, sondern der Gestalter. Uns geht es um die Erweiterung der Emanzipationsidee, die soziale und ökologische Befreiung des Menschen von Abhängigkeiten, Zwängen und Unterdrückung.
Das entspricht der Leitidee der nachhaltigen Entwicklung. Aber tatsächlich ist die Nachhaltigkeit zu einem beliebigen Plastikwort verkümmert. Im Anthropozän stehen wir an einem Scheidepunkt, an dem fünf weitere Pfade denkbar werden:
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Öko-autoritäre Strategien, weil die ökologischen Herausforderungen nur durch harte politische Vorgaben bewältigt werden könnten, eine Technokratie der Macht für Verzicht und Verbote. Derartige Reaktionen werden denkbar, wenn es nicht bald zu notwendigen Reformen kommt und der Handlungsdruck massiv steigt.
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Öko-imperiale Strategien, die darauf ausgerichtet sind, den Zugang zu Ressourcen in die industriellen Kern- und großen Schwellenländer abzusichern und die negativen ökologischen Folgen auf andere Weltregionen zu verlagern. Globale Gefahren wie die Klimakrise bedeuten nämlich noch lange nicht, dass es zu einem gemeinsamen Handeln kommt. Vor allem wächst die Gefahr, dass die Folgen noch stärker zu Lasten sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen externalisiert werden.
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Neoklassische umweltökonomische Strategien, in denen marktorientierte Preismechanismen dazu führen sollen, die Umwelt- und Ressourcenkrise zu bearbeiten. Der Staat solle nur dann eingreifen, wenn es zu einem gravierenden Marktversagen kommt.
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Verzichtsforderungen, die vor allem an das Individuum gerichtet sind, aber die gesellschaftlichen Zusammenhänge ausblenden.
- Klagestrategien, die ökologische Ziele nicht durch politische Programme und Maßnahmen erreichen, sondern durch rechtliche Entscheidungen erstreiten.
Natürlich sind alle diese Wege in ihren einzelnen Punkten durchaus nutzbar und manchmal auch sinnvoll, aber entscheidend ist eine Strategie und Programmatik, die eine umfassende sozial-ökologische Gestaltung der Transformation möglich macht. Ihre Grundlage muss ein solidarisches Emanzipationsprojekt sein. Dazu gehören die Zusammenführung von Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft, mehr Demokratie und Partizipation, Neuorientierung der Wissenschaft und Neuordnung der Ressourcen- und Energiebasis in Richtung auf Vermeiden, also starke Reduktion der Verbräuche bei absoluter Entkopplung vom BIP. Dazu bedarf es eines handlungsfähigen Staates und einer ökologischen Infrastruktur. Die soziale Gerechtigkeit muss unmittelbar in diesen Prozess verankert werden.
Die Natur- und Umweltschutzbewegung nimmt für den Umbau eine Schlüsselrolle ein, die sich nicht allein aus den ökologischen Themen ergibt. Sie muss die Umweltpolitik zur Gesellschaftspolitik machen und neue Allianzen mit Partner*innen, insbesondere den sozialen Bewegungen, schmieden und eine aktiv gestaltende Rolle in der sozial-ökologischen Gestaltung des Transformationsprozesses einnehmen.
Der Umbau verlangt eine hohe soziale Kompetenz aller Akteur*innen. Die Leitidee der Nachhaltigkeit ist eine gesellschaftspolitische Antwort auf die Herausforderungen. Dafür muss die Umwelt- und Naturschutzbewegung die Gesamtheit der Herausforderungen verstehen und die Hemmnisse, Widerstände und Interessen benennen, die den Umbau blockieren. Nachdem das Wachstum von Wissenschaft, Technik und Ökonomie in den beiden letzten Jahrhunderten zum bewegenden Zentrum im Denken und Handeln sowie zum wichtigsten Bezugspunkt gesellschaftlicher Zukunftsentwürfe wurde, muss es zu einem neuen Verständnis von Fortschritt kommen, das von den Grenzen und der Endlichkeit des Erdsystems ausgeht.
Heute wird die absehbare Alternative deutlich: Entweder kommt es zu einem Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und neuer Gewalt oder zu einem Jahrhundert der Nachhaltigkeit durch ökonomischen Umbau, soziale Gerechtigkeit und ökologische Verträglichkeit. Nachhaltigkeit setzt den Primat der Demokratie voraus, um sozial-ökologische Umbauprogramme durchzusetzen und mehr Reformen und demokratische Teilhabe zu verwirklichen. Im Zentrum stehen drei zentrale Prinzipien:
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Durch die Globalisierung der Märkte wurde die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates geschwächt. Deshalb muss die Legitimation politischer Institutionen und auch die demokratische Handlungsfähigkeit auf der regionalen und lokalen Ebene gestärkt werden. Nachhaltigkeit zielt darauf ab, Demokratie nach oben und nach unten zu erweitern. Dazu gehört auch eine Regionalisierung der Weltwirtschaft, um neue Gleichgewichte zu schaffen.
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Nachhaltigkeit wird nur dann Akzeptanz finden, wenn sie eng mit einer Politik der sozialen Gerechtigkeit und der Erweiterung von Partizipation verbunden wird.
- Die soziale, friedliche und ökologische Dimension der EU muss gestärkt werden, damit sie zu einer gerechten Gestaltung der Weltwirtschaftsordnung beitragen kann. Europa wird in der globalisierten Welt nur dann eine gestaltende Kraft sein, wenn die EU sich auf gemeinschaftliche Ziele der friedlichen und sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation verständigt.
Es geht im Anthropozän nicht um eine Untergangsperspektive dumpfer Schicksalshaftigkeit, sondern um mehr Aufklärung und Vernunft, mehr Demokratie und Verantwortung, mehr Allgemeinwohl und politische Gestaltungskraft. Wir wollen das große Ziel der Moderne, die Idee des guten Lebens durch die soziale Emanzipation der Menschen, auf neuen nachhaltigen Pfaden verwirklichen. Der Ausgangspunkt ist die Endlichkeit und die Störanfälligkeit unseres Planeten. Deshalb streiten wir für eine sozial-ökologische Gestaltung der Transformation:
- nachhaltig umbauen und handeln;
- Wirtschaft und Technik sozial und ökologisch gestalten;
- Gesellschaft solidarisch organisieren;
- Demokratie und Mitbestimmung stärken.
Die NaturFreunde werden Veranstaltungen und Diskussionen zum Anthropozän und zur sozial-ökologischen Transformation organisieren, Seminare zum Thema im Rahmen der Ehrenamtsakademie durchführen und sich vor Ort für eine gesellschaftliche Sensibilisierung einsetzen. Die Bundesebene organisiert ein Teamer*innen-Seminar zur Schulung von Referent*innen für die Ortsgruppen. Der Bundesvorstand organisiert auch eine inhaltliche Tagung zum Thema. Eine Zusammenarbeit mit der Naturfreundejugend wird angestrebt, um Bildungsmaterialien für den Erwachsenen- und Jugendverband zu erarbeiten.
Dieses NaturFreunde-Positionspapier wurde am 10.10.2021 vom 31. Bundeskongress in Falkensee beschlossen.