Mit Jenny Marx und 1.000 Demonstranten im Sonderzug gegen TTIP

Dalborner Biobauer im Sonderzug zur TTIP-Demo
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Von Matthias Timm

„Die zwingen dich dazu, ein Arschloch zu sein“, erklärt mir André. „Die“, das sind Bürokraten, Manager und Politiker, die – sagt er – zum Beispiel den Bäckern vorschreiben, das alte Brot wegzuwerfen, statt es Bedürftigen zu geben. Und weil er kein Arschloch ist und auch nicht vorhat, eines zu werden, hat sich der 27 Jahre alte Maschinenbauer aus Neuwied nachts halb eins auf den Weg zur großen Demo gegen TTIP gemacht. Jetzt ist es schon kurz vor drei.

Der Kahlköpfige im schwarzen Kapuzenpulli und mit dem schelmischen Lächeln hockt in der kalten Oktobernacht am Gleis 3 auf einem dicken Edelstahlrohr und lehnt sich an den geschlossenen Kiosk dahinter. Wir warten auf den Sonderzug nach Berlin. Um bei der Demonstration gegen das geplante TTIP-Abkommen dabei zu sein, spendiert der Mann, der neben etlichen Gesichts-Piercings auch ein Sanskrit-„Om“ hinters Ohr tätowiert hat, der guten Sache sein freies Wochenende plus 60 Euro für die Fahrkarte. Mit von der Partie ist auch Freundin Lara (24).

Eine Ochsentour für Idealisten

Morgens um drei ist sonst sogar der Kölner Hauptbahnhof recht leer, aber heute drängen sich doch  eine ganze Menge Menschen in der großen Halle. Der Sonderzug fährt gleich ein. Einer von fünf Zügen, die jeweils rund 1.000 Opferbereite aus Richtung München, Frankfurt oder eben Köln in die Hauptstadt fahren. Eine Ochsentour, denn allein die Fahrt durch die Nacht dauert Stunden. Dann auf die Demo und vom Berliner Hauptbahnhof bis zur Siegessäule marschieren und schließlich die Abschlusskundgebung überstehen. Die Teilnehmer, die von Köln gestartet sind, werden erst am frühen Sonntagmorgen, nach 24 Stunden Einsatz und mit Sicherheit ziemlich geschafft, wieder zurück sein. Wer da behauptet, es gäbe keine Idealisten mehr, hat einfach keine Ahnung.

Wuppertal, Hagen, Bielefeld: langsam füllen sich die Wagons, zusammengestückelt aus fünf Jahrzehnten Eisenbahngeschichte, aber es bleibt genug Platz für die Müderen unter den Mitreisenden, um sich etwas auszustrecken. Gestartet war dieser Zug in Aachen. Die Aachener hatten im leeren Zug ihre Chance erkannt und die beiden Wagen mit den Sechs-Personen-Abteilen, deren Sitze sich zu einer großen Liegefläche zusammenschieben lassen, besetzt. Die Vorhänge sind dort zugezogen, es ist drinnen dunkel und kuschelig.

Viele Familien mit Kindern haben sich auf den Weg gemacht

Die Mitreisenden sind ein bunter Mix quer durch die bundesrepublikanische Gesellschaft. Viele Familien mit Kindern haben sich auf den Weg zum Protest gemacht. Dann gibt es eine größere Gruppe Jugendlicher, die ständig durch die Wagons wuselt. Fest verwurzelt auf ihren Sitzen wiederum harren zahlreiche Senioren der Zugankunft in Berlin entgegen. Hier und da wird bei den Älteren in Rätselheften gearbeitet oder Zeitung gelesen. Ich erkenne unter anderem den „Kölner Stadtanzeiger“, die „WAZ“, und – hoppla! – auch das „Neue Deutschland“.

Etwas weiter vorn kommt ein Erster-Klasse Wagen. Gleich im ersten Abteil hängt die rote Fahne im Fenster. „Die Linke“ hat es sich, der Aufschrift nach zu urteilen, hier bequem gemacht. „Wir sind doch für die klassenlose Gesellschaft“, reagiert die Dame am Fensterplatz gelassen auf meine provokante Nachfrage zu ihrer Platzwahl. Sie stellt sich als die Fraktionsgeschäftsführerin der Linkspartei in Heinsberg vor. Ihr Name: Jenny Marx. Wie immer man zur Linkspartei auch steht, das ist doch schon mal eine nette Anekdote!

Die Reisenden sind überzeugt: TTIP will die Welt verändern

Die Dämmerung ist angebrochen, draußen sind vorbeihuschende Felder zu erkennen und unser Zug hat es bereits bis Helmstedt geschafft. Bis 1990 wurde hier jeder Autofahrer auf der Transitstrecke von den Ost-Grenzern angesprochen mit  der verkürzten Frage „Waffen, Munition, Funkgeräte?“ Wehe, er konnte es sich nicht verkneifen, zu antworten: „Danke, ich kaufe nichts!“ Das war kein Ort, an dem Späßchen toleriert wurden. Stacheldrahtzäune, extra-massive Schlagbäume, rollbare Betonklötze und gelegentlich benutzte Kalaschnikows verhinderten jeden unkontrollierten Grenzübertritt aus oder in die DDR. Der eiserne Vorhang trennte Ostblock und Westblock wie ein Spaltkeil im Holzklotz.

Jetzt, 25 Jahre nach der Einheit, will TTIP die Welt erneut verändern. Davon sind jedenfalls alle meine Mitreisenden und viele, viele andere Menschen fest überzeugt. Wie viele es an diesem Tag tatsächlich sind, für die TTIP kein langweiliges Handelsabkommen, sondern ein bedeutendes Element des Bösen in unserer Welt ist, das wird noch eine der großen Überraschungen dieses Tages. Aber davon ahnt jetzt noch niemand etwas.

Im Sonderzug wird die Uhr zunächst einmal zurück gedreht: Per Lautsprecher-Durchsage erfahren wir, dass der Bistro-Wagen zusätzlich Musik bietet und außerdem tatsächlich ein Raucherwagen ist: Das gab es für Bahnfahrer zum letzten Mal am 31. August 2007.

Ein Staatsstreich: Konzerne wollen politische Entscheidungen kippen können

Kritiker bezeichnen den im Entstehen begriffenen TTIP-Vertrag unter anderem als „Staatsstreich in Zeitlupe“ (Lori Wallach in „Le Monde diplomatique“), denn durch das Abkommen sind staatliche Maßnahmen, wie zum Beispiel Elemente der Gesundheitspolitik, plötzlich möglicherweise ‚Handelshemmnisse‘ und deshalb können Unternehmen dagegen klagen und Entschädigungen fordern. Konzerne können dann de facto missliebige politische Entscheidungen kippen.

Als das südamerikanische Uruguay vor ein paar Jahren den Nichtraucherschutz verbesserte, klagte der Tabakkonzern Philip Morris gegen das Land – und bekam, bei TTIP-ähnlicher Vertragslage, – Recht. Ein Schiedsgericht urteilte, dass Uruguay 25 Millionen Dollar zahlen muss. Ursprünglich hatte Philip Morris sogar angekündigt, eine Klage über gut zwei Milliarden Dollar einreichen zu wollen. Das hätte in Uruguay den nationalen Notstand ausgelöst.

Bio-Bauer Ulf Allhoff-Cramer fährt aus vielen guten Gründen

Im westfälischen Dalborn herrscht die Krise bereits, denn ein erheblicher Anteil der Einwohnerschaft hat in der Nacht den Ort verlassen und sitzt jetzt im Sonderzug, genauer gesagt in dessen Fahrrad-Abteil. Das ist zwar unbequemer als die Erste Klasse, aber praktisch, weil die Transparente etwas sperrig geraten sind. Dalborn, ein Ortsteil von Blomberg im Lippeschen, zählt jedoch auch nur etwa 90 Einwohner. Der Ort besitzt ein größeres Alternativ-Projekt mit Bio-Landwirtschaft und Kulturprogramm. Bio-Bauer Ulf Allhoff-Cramer befürchtet, dass sich durch TTIP die Lage bei den Lebensmitteln weiter verschlechtert. Heißt: noch mehr Agrarindustrie, mehr Gift im Essen, mehr Genmanipulation auf den Tellern und in der Folge eine weitere Beschleunigung des Klimawandels. Das sind viele gute Gründe für ihn, zur Demo nach Berlin zu fahren.

Ein strahlend schöner, wenn auch kühler Oktobertag erwartet die Ankömmlinge in der Hauptstadt. Die Menschenmenge vor dem Hauptbahnhof, dem Startpunkt der Demo, ist schon Stunden vor Beginn der Demo nicht mehr zu überblicken. Etwa 40 Organisationen, Verbände und Initiativen hatten die Trägerschaft übernommen. Die Liste reicht von attac über Brot für die Welt, BUND, Campact und Greenpeace bis zu den NaturFreunden Deutschlands, dem Paritätischen und Verdi. Die Dienstleistungsgewerkschaft hat unter anderem eine Schwadron orangefarben gekleideter Müllmänner aufgestellt, die TTIP symbolisch eine Abfuhr erteilen. Ein buntes Bild.

Die Veranstalter haben sich verrechnet

Die Veranstalter waren optimistisch, mehr als 50.000 Menschen versammeln zu können. Sie hatten sich verrechnet: Es wurden 250.000. Frauke Distelrath, attac-Pressesprecherin, kann es, als die Zahl im Laufe des Nachmittags hereinkommt, selbst kaum fassen. Die riesige, rund drei Kilometer lange Allee zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule ist bereits ein wogendes Menschenmeer und  „vor dem Hauptbahnhof stehen immer noch zehntausende Leute, die noch gar nicht losmarschiert sind“, berichtet sie beinahe fassungslos.

Egal, was die Politiker sagen werden: Diese Demonstration ist bereits während sie noch läuft ein Erfolg. Sie ist eine der ganz großen Demonstrationen in der deutschen Geschichte. Lediglich der ‚NATO-Doppelbeschluss‘ und eventuell auch die Atomkraft  zogen in den 80er-Jahren noch mehr Menschen auf die Straße. Der Biobauer, der Maschinenbauer, die Linken-Abgeordnete, die jungen NaturFreunde, die Frauen mit Piercing und die mit Perlenkette, die sich verantwortlich fühlenden Senioren: 250.000 Einzelpersonen und ihre Vereine und Verbände haben deutlich gemacht, dass TTIP nicht ihr Weg ist und nicht unser deutscher und nicht unser europäischer Weg sein soll.

Auf der Rückfahrt ist der Discowagen voll

Müde, aber zufrieden: Die Stimmung in den Abteilen auf der Rückfahrt des Sonderzugs ist gut. Der Discowagen ist voll und in den Abteilen wird noch einmal quer über die Sitzreihen hinweg diskutiert. Die Schiedsgerichte sind einer der ganz großen Knackpunkte des geplanten Abkommens. Das ist auch für Sabine Aldenhoven aus Essen einer der Gründe für die Fahrt zur Demo gewesen.

Der andere Grund, den mir die Lehrerin nennt, sind die Politiker. „Ich hatte meinen SPD-Abgeordneten zu TTIP angeschrieben und nicht mal eine Antwort bekommen“, sagt sie. Während einer Veranstaltung der Sozialdemokraten habe sie sich zu Wort gemeldet und ihre Bedenken formuliert. Die Antwort des anwesenden Volksvertreters sei gewesen, dass wir bereits 300 ähnliche Handelsabkommen hätten, „der hat das absolut runtergespielt!“ Da dürften sich Politiker nicht wundern, wenn bei Wahlen bloß noch 24 Prozent der Wahlberechtigten ein Kreuzchen machen, sagt sie. Ihr Mann Ralf, Mittvierziger und Ingenieur, nickt: „Ich weiß jetzt nicht mehr, was ich wählen soll. Da fahren wir dann lieber zur Demo.“ Er sei überzeugter Demokrat, „in der Tradition des Hambacher Festes von 1832“, sagt er. Schiedsgerichte, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagen und Geheimverhandlungen gingen für ihn gar nicht.

Der Verdacht: TTIP ist ein kriminelles Konstrukt

Es sind keine Richter, die da urteilen sollen, sondern spezialisierte Anwälte. Sie tagen im Geheimen, und es gibt keine Berufungsmöglichkeit. Und da es immer um enorme Summen geht, ist zumindest der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Politik bei ihren Entscheidungen davon leiten lässt, was bei Unternehmen gut ankommt. Streng genommen erfüllt TTIP deshalb zumindest den Anfangsverdacht, ein kriminelles Konstrukt zu sein: Paragraph 106 des Strafgesetzbuchs stellt die ‚Nötigung von Verfassungsorganen‘ unter Strafe.

Aber das ist an diesem Abend nicht mehr lange das Thema: Während sich die meisten Demonstrationsteilnehmer sichtlich zufrieden mit diesem langen Tag auf ihrem Sitz in Mäntel und Jacken einwickeln und versuchen, doch noch etwas überfälligen Schlaf zu bekommen, zieht es die noch immer energievolle Jugend in den Disco-Wagen, wo der DJ unermüdlich eine Grönemeyer-Hymne nach der anderen auflegt.

Den Refrain kennen auch diejenigen, die keine Gröni-Fans sind. Der Fahrtwind reißt die dicken Tabakschwaden in Sekunden aus dem soeben geöffneten Fenster, und die Botschaft aus 50 Kehlen beschallt die Landschaft hinter Minden, die im Dunkel vorbeizieht: „Zeit, dass sich was dreht, was dreht, was dre-e-e-e-e-eht!“ Gut, zu wissen, dass ich nicht allein bin, mit meinem Wunsch nach Veränderung, denn – liebe Politikerinnen und Politiker – es ist tatsächlich höchste Zeit, dass sich etwas dreht! Niemand möchte gern ein Arschloch sein, in Wirklichkeit ihr doch auch nicht.

Matthias Timm
timm.KOMMUNIKATION
Bornheim