Tourismus nach Corona

Warum Subventionen jetzt an sozial-ökologische Bedingungen geknüpft werden müssen

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Welche Wohltat! Im Vergleich zum Vorjahr sind 2020 über zwei Drittel weniger Tourist*innen nach Berlin gekommen. Viele Berliner*innen freuten sich über Ruhe und Bewegungsfreiheit in der Stadt.

Für die Tourismusbranche war das allerdings ein Horrorszenario. Als gäbe es kein Morgen mehr, hat sie Hotel für Hotel neu gebaut, gegen alle Widerstände Wohnungen in Touristenappartements umgewandelt, Kiez für Kiez umgekrempelt und aus verschlafenen Cafés Starbucksfilialen gemacht. Parallel können sich viele Berliner Beschäftigte der Branche die Stadt selbst nicht mehr leisten. Sie müssen ins Umland umziehen, was weite Wege zur Arbeit mit sich bringt.

Warum sollte es in der Hauptstadt auch anders zugehen, als in anderen touristisch begehrten Zielen? Tourismus zerstört regelmäßig das, was er sucht: unberührte Landschaft, wilde Küsten, quirlige Stadtviertel. Und wenn die Infrastruktur steuerlich abgeschrieben ist, kann man weiterziehen zur nächsten Destination.

Eigentlich ist dieser Zyklus seit Jahrzehnten bekannt. Trotzdem setzt die Berliner Politik unisono auf ihr Mantra: die wachsende Stadt und die Förderung des Tourismus. Infrastrukturell sind mit dem neuen Flughafen BER und den unzähligen Hotelneubauten die Entwicklungsperspektiven sprichwörtlich in Beton gegossen. Ohne wachsende Tourismuszahlen wird sich das nicht rechnen.

Im Jahr 2019 gab es 14 Millionen Gästeankünfte mit rund 34 Millionen Übernachtungen in der Hauptstadt. Laut Statistischem Bundesamt sind das 8.700 Übernachtungen je tausend Berliner* innen. Mehr als 150.000 Hotelbetten warten auf Belegung, in den letzten zehn Jahren kamen 50.000 neu dazu. Einige Hotellerieexpert*innen sprechen von einer „Bettenschwemme“.

Der Flug ins Wochenende

Berlin ist kein Sonderfall. Auch Barcelona leidet unter „Overtourism“. Der Begriff beschreibt eine Entwicklung, bei der ein Reiseziel auf unhaltbare Weise von Tourist*innen überrannt wird. Die Konflikte zwischen Einheimischen und Tourist*innen mehren sich.

In Barcelona begann diese Entwicklung mit dem großen Umbau für die Olympischen Spiele 1992. Seitdem ist die Schar der Tourist*innen ungebremst gewachsen – zumindest bis zum Beginn der Corona-Pandemie. Viele fliegen nur zum Wochenende ein. Andere steuern Barcelona von See aus an; die Kreuzfahrtschiffe sind für mehr Feinstaub verantwortlich, als der intensive Autoverkehr. Wohnraum wurde knapp, doch obwohl es in der Innenstadt kaum noch bebaubare Flächen gibt, wurden im letzten Jahrzehnt 109 neue Hotels mit weiteren 7.200 Betten errichtet. Der Anteil international operierender Hotelkonzerne hat sich seit 2010 verdreifacht.

Barcelona ist nach Paris die am dichtesten besiedelte Millionenstadt Europas. Zwar hat die Stadtverwaltung erkannt, dass sie gegensteuern muss und Auflagen und Kontrollen verschärft. Im Kampf gegen den Klimawandel soll der Verkehr um 25 Prozent reduziert werden. Der Physiker Miquel Ortega hat berechnet, dass Hafen und Flughafen Barcelonas zusammen für so viel Kohlendioxid verantwortlich sind, wie die gesamte Stadt mit ihren 1,7 Millionen Einwohner*innen.

Auch das touristisch überfüllte Amsterdam hat begonnen, bestimmte Tourismus-Formen zurückzudrängen. Die Bevölkerung war nicht mehr bereit, die Zurichtung der Innenstadt durch den Tourismus mitzutragen. Schaut man sich an, wohin bestimmte Fluggesellschaften fliegen, kann man die Reihe der Städte mit Overtourism mühelos fortsetzen: von Lissabon bis Dubrovnik, von Venedig bis Kopenhagen. Auch die Welttourismusorganisation warnt vor dem Overtourism- Phänomen, hält gleichzeitig aber am globalen Wachstumsmantra im Tourismus fest.

Treiber für den besonders klimaschädlichen Ferntourismus

Die Fluggesellschaften sind Treiber für den besonders klimaschädlichen Ferntourismus. Während im innereuropäischen Flugverkehr ein zum Teil ruinöser Wettbewerb mit Billigtickets – verbunden mit Ausbeutung von Mensch und Natur – stattfindet, wird auf den Interkontinentalflügen richtig Geld verdient. Deshalb setzen Flugkonzerne und Großflughäfen auf Fernreisen – inklusive so absurder Formate wie den Wochenend-Einkaufstrip aus den USA oder China nach München.

Gefördert wird dieser ökologische Wahnsinn unter anderem von der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT) und den Tourismusmarketingorganisationen einzelner Bundesländer. Die DZT, die sich – obwohl privater Verein – im Wesentlichen aus Mitteln der Steuerzahler*innen finanziert, konterkariert damit die offizielle Klimaschutzpolitik. Immer fernere Quellmärkte für den Tourismus nach Deutschland sollen erschlossen werden.

„10. Rekordergebnis in Folge“, überschrieb die DZT stolz ihre Bilanz des Tourismusjahres 2019. Gleichzeitig prognostizierte sie weiter großes Wachstumspotenzial bis zum Jahr 2030, vor allem aus den Märkten in Südamerika und Südostasien. 99 Prozent der Tourist*innen von dort werden natürlich mit dem Flugzeug anreisen. Die Tourismuszentrale verspricht 80 Prozent mehr Übernachtungen aus diesen Ländern in Deutschland bis zum Jahr 2030 (Basisjahr 2013).

Wer sich die Mitgliederstruktur der Deutschen Zentrale für Tourismus ansieht, wundert sich nicht über diese einseitige Ausrichtung auf stetiges Wachstum aus Übersee: Tonangebend sind die Deutsche Lufthansa, die Großflughäfen, der TUI-Reisekonzern. Alles große Subventionsempfänger in Deutschland, denen die Politik aber nicht in ihr Geschäftsgebaren hineinreden will. Dabei wäre genau das dringend geboten, um eine klima- und sozialgerechte Ausrichtung des Tourismus in Deutschland zu erreichen.

Momentan allerdings folgt die Politik dem Lehrbuch des staatsmonopolistischen Kapitalismus: Ohne selbst Einfluss zu nehmen, stützt der deutsche Staat „seine“ Tourismuskonzerne. Dabei hätte er sie jetzt in der Pandemie mit weit weniger Geldeinsatz auch gleich übernehmen können.

Credo für Tourismusförderung und Wachstum

Natürlich muss man soweit nicht gehen. Die große Koalition kann den Widerspruch zwischen ihrer offiziellen Klimaschutzpolitik und der Wirtschaftsförderung, die das Gegenteil durchsetzt, jedoch nicht übersehen. Das gilt im Übrigen für alle Parteien, denn meist sind sich die Abgeordneten im Tourismusausschuss des Deutschen Bundestages einig in ihrem Credo für Tourismusförderung und Wachstum.

Ökonomisch scheint die Sache einfach: Tourist* innen aus Übersee geben auf ihrer Reise in ein Land Europas viel mehr Geld aus als Europäer* innen. Deshalb werben die Tourismusmarketingorganisationen verstärkt um Tourist*innen aus Übersee. Damit ist aber noch nicht gesagt, wo die Wertschöpfung hinfließt.

Den größten Teil des Budgets stecken sich bei US-Tourist*innen nämlich Fluggesellschaften, Flughäfen und weltweit operierende Tourismuskonzerne und Hotelketten ein. Bereisen uns Tourist*innen aus dem Nachbarland, bleibt hingegen ein größerer Teil der Wertschöpfung in der Region und bei kleineren und mittleren Anbietern, wie zum Beispiel Stefan Gössling, Professor an den Hochschulen Kalmar und Lund in Schweden, nachgewiesen hat.

Während die Konsolidierung der Überkapazitäten im europäischen Flugverkehr noch auf sich warten lässt, da die einzelnen Staaten der EU ihre jeweilige Airline (Alitalia, Air France / KLM, Lufthansa, etc.) gerettet haben, wird der Konzentrationsprozess im Hotelgewerbe rasch fortschreiten. Kleine und mittlere Hotelanbieter scheiden in der Krise aus, während die großen die Krise nutzen, um billig einzukaufen und noch schneller zu wachsen.

Natürlich sind auch die üblichen Verdächtigen aktuell sehr aktiv in der Suche nach lohnenden Übernahmen. Es sind die Fonds, die NaturFreund Franz Müntefering (SPD) in der Finanzkrise als Heuschrecken bezeichnete. Und den Gewerkschaften ist längst klar, dass der Ton noch rauer werden wird in der Branche, wo 60 Prozent der Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor angesiedelt sind.

Nachhaltigkeit nur als Begleitprogramm

Auf Kongressen und Tourismusmessen wie der ITB wird rauf und runter über Nachhaltigkeit diskutiert – freilich im Begleitprogramm. Die Anreise der Tourist*innen wird dabei aber gerne ausgeklammert. Allerdings macht sie den größten Teil des Kohlendioxid-Fußabdrucks einer Reise aus.

Solange mit grünem Wasserstoff betriebene Flugzeuge noch nicht einmal auf dem Reißbrett existieren, ist Nachhaltigkeit im Ferntourismus deswegen eine Illusion. Flugreisen sind für etwa fünf Prozent der Klimabelastung weltweit verantwortlich. Dabei sind mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung noch nie geflogen. Auch im regionalen Bereich gibt es nur wenige Projekte, die sich ernsthaft mit der Verkehrsproblematik des Tourismus auseinandersetzen.

Positive Beispiele für eine Tourismusentwicklung, die den Verkehrssektor ins Auge nimmt, gibt es wenige. Aber es gibt sie. So hat die spanische Insel Formentera ein Konzept entwickelt, mit dem der Autoverkehr schrittweise zurückgedrängt werden soll, während Fahrradwege und Buslinien systematisch ausgebaut werden. Der entscheidende Vorteil der Insel: Es gibt dort keinen Flughafen, weshalb sie nicht in die völlige Abhängigkeit eines einseitigen Entwicklungspfades der Tourismusindustrie geraten ist.

Der Volkswagenkonzern, der sein Image grün aufpolieren möchte, hat jüngst mit der griechischen Regierung ein Pilotprojekt für die Insel Astipalea vereinbart, in dem die Fahrzeugflotte dort elektrisiert und die Energieversorgung der Insel von fossilen Brennstoffen auf Solar und Windkraft umgestellt werden soll.

Nun könnte man einwenden, dass solche Projekte auf Inseln leichter zu realisieren wären. Aber man könnte zum Beispiel auch den Innenstadtbereich von Berlin innerhalb des S-Bahn- Rings als grüne Insel definieren, zumal hier eine hervorragende Infrastruktur öffentlicher Verkehrsmittel existiert. Stadtbegrünung, Freiflächenschaffung durch Wegfall von Parkplätzen und Verkehrsflächen, stärkeres Quartiermanagement nach sozialen und ökologischen Kriterien und Auflagen für Hotels würden dazu beitragen, die Stadt auch für Besucher* und Tourist*innen attraktiv zu halten. Nur müsste dazu das Tourismusangebot umgebaut und nicht den angeblich freien Marktkräften überlassen werden.

Tourismuspolitik neu denken

Die Corona-Pandemie eröffnet wie jede Krise auch eine Chance, sich neu zu entscheiden, welcher Weg eingeschlagen werden soll. Statt auf Wachstum um jeden Preis zu setzen, muss eine zukunftsfähige Tourismuspolitik jetzt verknüpft werden mit einem Vorrang für Klimaschutz vor privaten Profitinteressen.

Für Spanien zum Beispiel gibt es aussagekräftige Prognosen, was im Zuge des Klimawandels an den mehr als 9.000 Kilometern Küste geschehen wird, wie sich Wasserknappheit einerseits und Anstieg des Meeresspiegels andererseits auswirken werden. Deshalb sollte dort die Krise genutzt werden, den Küstenschutz zu verstärken und ein Programm zum Abriss von Touristenhotels aufzulegen.

Eine sozial-ökologische Transformation im Tourismus ist dringend notwendig. Sie wird sich gegen mächtige Gegenspieler durchsetzen müssen. Es ist zu befürchten, dass Konzerne wie die Lufthansa und der Staat, der die Firma ohne inhaltliche Auflagen gerettet hat, an einem Strang ziehen, um die Quote der Fernreisenden im Tourismus merklich zu erhöhen.

Die Pariser Klimaziele können so aber nicht erreicht werden. Deshalb muss der Konsens der Parteien in der Tourismuspolitik aufgekündigt werden. Die DZT braucht neue Ziele, die der Bundestag wesentlich mitbestimmen muss. Immerhin geht auch die DZT davon aus, dass sich der Tourismusmarkt in Europa am schnellsten erholen wird, weshalb sie zunächst stärker als bisher auf Touristen aus den Nachbarländern setzt.

Zweifellos bedeutet die Pandemie für viele Menschen, die vom Tourismus leben, einen gewaltigen Einschnitt und oft sogar die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz. Allerdings hat auch der Tourismus selbst in seiner heute oft ausbeuterischen Form maßgeblich zur schnellen Verbreitung des Virus beigetragen. Ischgl ist dabei nur ein Synonym für die heute oft kranke und ausbeuterische Form des Tourismus. Innehalten statt weiter so ist deshalb angesagt.

Hans-Gerd Marian