Wie Frauen eine Stimme bekamen

Vor 100 Jahren durften Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen

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„Vor allen Dingen wird eine gebildete Frau, die in ihrer Bildung die Waffen findet, sich auf eigenen Füßen in der Welt behaupten, nicht blindlings jede Ehe eingehen, nur weil es ihr von anderen eingeredet wird, sie müsse heirathen.“

Frauen sollen sich bilden? Das Zitat stammt von Anita Augspurg, Frauenrechtlerin im Deutschen Kaiserreich. Im Jahr 1900 war das – noch heute gültige – Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft getreten, zu einer Zeit, als die Rolle der Frau unter einem dreifachen Imperativ stand: „Heiraten! Kinder kriegen! Haushalt führen!“ Das Gesetzbuch illustrierte diese Rolle: Frauen durften noch nicht einmal ihr Vermögen selbst verwalten, geschweige denn studieren.

Entsprechend empört wurde auf Anita Augspurgs Bildungsoffensive reagiert. „Solche Frauenforderungen fallen mit dem Umsturze der Familienautorität zusammen; sie machen den Unfrieden ‚von Amts wegen‘ zur Regel, mit einem Wort: sie schaffen die Hölle im Hause“, hieß es in der Deutschen Tageszeitung. Aber da war schon einiges in Bewegung.

Im Jahr 1879 hatte August Bebel, der leider zunehmend in Vergessenheit geratene große deutsche Sozialdemokrat, sein Buch Die Frau und der Sozialismus veröffentlicht. Darin legt er dar, warum die Frau dem Manne gleichberechtigt ist, nicht nur vom Gesetz, sondern auch ökonomisch und „in geistiger Ausbildung“. Überall hatten sich Frauen aufgemacht, ihre Rechte nun auch einzufordern.

1909 erschien Bebels Buch in der 50. (!) Auflage, der SPD-Gründervater zog im Vorwort schon einmal Bilanz: „Es dürfte kaum eine zweite Bewegung geben, die in so kurzer Zeit so günstige Resultate erzielte.“ Im Vorjahr nämlich – also 1908 – war Frauen erstmals erlaubt worden, sich politisch in Vereinen zu engagieren. Sogar an Universitäten durften Frauen sich jetzt einschreiben.

Doch „so viel „Freiheit reichte ihnen nicht: Sie wollten tatsächlich frei und allgemein wählen dürfen. Und damit die gleichen Rechte wie ein Mann haben. Anita Augspurg war da schon promovierte Juristin, die erste im Deutschen Kaiserreich. Die Berlinerin hatte nämlich in der Schweiz studiert, wo das für Frauen schon im 19. Jahrhundert möglich war. Dort begründete sie den „Internationalen Studentinnenverein“, unter anderem mit Rosa Luxemburg.

Für Augsprung war „die Frauenfrage eine Rechtsfrage“, weshalb sie sich juristisch aufmacht, die Frauenrechte einzufordern. Mit Anna Edinger, Marie Stritt, Lily Braun, Minna Cauer und anderen Feministinnen gründete Anita Augsprung im Jahr 1904 in Berlin den „Internationalen Weltbund für das Frauenstimmrecht“. Dann gründete Augsprung die „Zeitschrift für Frauenstimmrecht“. Die SPD folgte mit einem „Frauensekretariat“. Und in Finnland schafften Frauen das für unmöglich Gehaltene: Im Jahr 1907 durften sie zum ersten Mal wählen, ohne dass die Welt zusammenbrach, als Erste in Europa. Da waren Frauen auch schon in Neuseeland und Australien wahlberechtigt. In Großbritannien begannen „Suffragetten“ genannte Feministinnen Bomben in öffentliche Gebäude zu werfen – um zu zeigen, dass auch sie wie Männer handeln konnten.

Erstmals fand im Jahr 1911 der Internationale Frauentag statt, organisiert von Clara Zetkin und Käthe Duncker. Es begann die Zeit, in der die Aktivistinnen nicht mehr debattierten, ob sie das Wahlrecht erlangen, sondern wie. Sollten sie Gewalt anwenden? Sich mit den Männern verbünden? Sollte man sich das Wahlrecht durch konstruktive Mitarbeit auf kommunaler Ebene verdienen? Doch erst einmal folgte der Erste Weltkrieg, an dessen Ende Deutschland ausgeblutet und geschlagen war.

Im November 1918 verweigerten die Matrosen in Kiel den Befehl, was zur Revolution und zum Ende der Monarchie führte. Am 9. November rief Philipp Scheidemann die Republik aus, wenige Tage später proklamierte der Rat der Volksbeauftragten eine große Wahlrechtsreform, die tatsächlich das Frauenwahlrecht enthielt. Im Artikel 109, Abs. 2 der Weimarer Verfassung stand dann schließlich: „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“

Am 19. Januar 1919 war es dann soweit: Erstmals durften Frauen in Deutschland wählen – die Deutsche Nationalversammlung, der Vorgängerin des Deutschen Bundestages. 82,3 Prozent aller wahlberechtigten Frauen machten davon auch Gebrauch, ein Wert, der heute undenkbar erscheint. Für Frauen ist es 100 Jahre nach ihrer politischen Gleichberechtigung eben mittlerweile genauso normal, eine Stimme zu besitzen, wie für Männer.

Nick Reimer