„Lobbyismus fördert die Ungleichheit“

Der Abgeordnete Marco Bülow erklärt, wie Lobbyismus im Bundestag funktioniert

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Marco Bülow (48) ist seit dem Jahr 2002 Bundestagsabgeordneter für Dortmund. Seine Schwerpunkte sind soziale Gerechtigkeit, Demokratie, Transparenz & Lobbyismus sowie Umwelt. Bülow ist 2018 aus der SPD ausgetreten, aber weiterhin Mitglied der NaturFreunde.

Herr Bülow, Sie sind seit 17 Jahren Bundestagsabgeordneter. Wie viele Lobbyist*innen haben Sie seither getroffen?

Marco Bülow: Bestimmt mehrere Tausend.

Gibt es auch gute Lobbyist*innen?
Ich unterscheide nicht zwischen gut und schlecht, sondern zwischen Lobbyist*innen, die sich für Profit von Eliten und Konzernen einsetzen und solchen, die sich für gesellschaftliche Ziele starkmachen. Es ist wohlgemerkt legitim, sich für sein Eigeninteresse einzusetzen. Aber mir sind Vertreter*innen, die sich für das Interesse der Allgemeinheit starkmachen, sympathischer.

Wieso?
In der Regel hat man es bei den Lobbyist*innen für den Profit mit mächtigen Akteuren zu tun, die viel Geld und Personal zur Verfügung haben. Den kleinen Betrieb aus dem Wahlkreis gibt es zwar auch, aber er ist die Ausnahme. Die Vertretung für das Wohl der Gesellschaft oder der Umwelt – Leute, die für das Allgemeine, nicht für partikulare Interessen einstehen – hat demgegenüber viel weniger Ressourcen, weniger Geld, weniger und schlechter bezahltes Personal oder ehrenamtlich tätige Menschen. Ich mag diese Ungleichheit der Chancen nicht.

In Ihrem Buch „Wir Abnicker“ beschreiben Sie, wie Abgeordnete durch Lobbyist*innen unter Druck gesetzt werden. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Solange unsere Arbeit keine wirtschaftlichen Interessen berührt, gibt es keinen Druck. Aber immer, wenn eine Gesetzgebung ansteht, die genau das tut, ändert sich die Situation ganz schnell. Dann gibt es Einladungen, Treffen, Forderungen von Lobbyist*innen. Man merkt es auch daran, dass auf einmal Kolleg*innen, die sich bisher nie für das Thema interessiert haben, in der Tür stehen und Einfluss ausüben wollen.

Marco Bülow: Wir Abnicker – Über Macht und Ohnmacht der Volksvertreter; 240 Seiten; Econ-Verlag, Berlin, 2010; ISBN 9783430300421; 18 Euro.

Sie könnten doch Nein sagen zu den Treffen!
Wenn man sich den Lobby-Gesprächen entziehen will oder nicht zu bestimmten Lobby-Veranstaltungen geht, kann es passieren, dass die Lobbyist*innen den Fraktionsvorstand oder die Parteispitze kontaktieren. Dann wird man von denen aufgefordert, mit den Lobbyist*innen zu reden. So entsteht der Druck. Die meisten Abgeordneten lassen es nicht so weit kommen, sondern führen diese Gespräche.

Wer findet am häufigsten Gehör?
Die mächtigsten und finanziell am besten ausgestatteten Branchen – sie bekommen das meiste Gehör, die meiste Zeit von Abgeordneten. Dabei sind die in diesen Gesprächen vertretenen Interessen in der Regel Interessen von Leuten, die sich sehr gut selbst helfen können.

Was bedeutet das für die Volksvertretung?
Sie fühlt sich nicht in erster Linie der gesamten Bevölkerung verpflichtet, sondern eher den privilegierten Gruppen. Lobbyismus fördert die Ungleichheit, weil er diejenigen bevorzugt, die schon viel Einfluss und Geld besitzen. Lobbyismus fördert auch ein Demokratiedefizit: Die Interessen der einflussloseren und ärmeren Bevölkerung vertritt fast niemand.

Können Sie das beweisen?
Nehmen wir die Umweltverbände. Ihre Treffen mit Abgeordneten zu Themen der Umweltpolitik sind deutlich weniger zahlreich als die der Industrielobbyisten. Das beeinflusst die Mandatsträger* innen, denn jede*r Abgeordnete ist beeinflussbar. Und von den Lobbyist*innen werden ja durchaus gute Argumente vorgebracht. Wenn dann nicht der Druck der Straße als Gegengewicht kommt, so wie aktuell bei der Klimabewegung, dann geraten die Interessen des Gemeinwohls schnell ins Hintertreffen.

Eine starke Behauptung. Ihre Belege?
Ich war bis 2009 umweltpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und entwickelte das CCS-Gesetz …

… ein Gesetz zum unterirdischen Verpressen von Kohlendioxid, eine Art Klimaschutzgesetz.
Genau! Das konnte ich zunächst ohne Druck von außen tun. Wir einigten uns in der Arbeitsgruppe auf Inhalte dieses Gesetzes. Dann kam das Interesse von zwei Großkonzernen auf, die Testversuche durchführen wollten. Dafür sollte der Staat Subventionen bereitstellen. Die Konzerne wollten zudem von sämtlichen Haftungsrisiken für ihre Tests freigestellt werden. Plötzlich gab es massiven Druck auf unsere Arbeitsgruppe.

Dem Sie widerstanden?
Wir versuchten, den Konzernen wenigstens einen Teil der Verantwortung für die Risiken aufzubürden. Das aber wurde mit Verweis auf den Koalitionspartner abgelehnt. So wurde ein Gesetz eingebracht, wie es die Konzerne haben wollten.

Die Konzerne diktierten das Geschehen?
Überraschenderweise nicht! Kurz bevor das konzernfreundliche Gesetz beschlossen werden sollte, traten mächtigere Lobbygruppen auf den Plan.

Mächtiger als die Energiekonzerne?
In diesem Fall der Bauernverband. Der hat in ganz kurzer Zeit erreicht, was wir Abgeordnete mit unserer Sachkenntnis und unseren Argumenten nicht erreicht haben: Das konzernfreundliche Gesetz wurde in letzter Minute gestoppt.

Bäuer*innen stechen Konzerne aus?
Zumindest führten Erfahrungen wie diese Michele Hustedt von den Grünen und den SPD-Politiker Herman Scheer zu der Einsicht: Wenn du politisch gewinnen willst, musst du eine Lobby mit der anderen ausstechen. Das ist ein Trauerspiel, finde ich, aber die beiden haben das Erneuerbare-Energien-Gesetz geschaffen.

Ist Politik käuflich?
Nein, nicht unbedingt! Es gibt zwar durchaus eine Grauzone, etwa Abgeordnete, die sich beeinflussbar machen, weil sie Nebenverdienste durch Vorträge oder Aufsichtsratsmandate einspielen. Auch gibt es Abgeordnete, Minister*innen oder Staatssekretär*innen, die aus ihrer Tätigkeit direkt in den Lobbyismus wechseln – die berühmte Drehtür. Das betrifft aber nur eine Minderheit. Die sogenannten Hinterbänkler*innen kommen meist gar nicht erst in die Gefahr gekauft zu werden, weil sie zu wenig Einfluss haben.

Wie bitte? Sie entscheiden doch, was Gesetz und Recht wird.
Theoretisch ja. Praktisch aber werden die Abgeordneten immer uninteressanter für die Lobbyist* innen, weil Entscheidungen immer mehr in den Ministerien fallen und dann vom Parlament nur noch durchgewunken werden.

Was muss passieren, um den Einfluss der Lobbyist*innen zurückzudrängen?
Der erste und kleinste Schritt wäre ein Lobbyregister, in das sich alle hauptberuflichen Lobbyist* innen eintragen müssen. Dort müssen sie offenlegen, für wen sie arbeiten.

Schritt Nummer zwei?
Der „legislative Fußabdruck“. Das bedeutet, dass in einem Gesetz immer deutlich gemacht werden muss, wer an welcher Stelle Einfluss auf die Paragrafen genommen hat. Und als Drittes sollten beschlossene Gesetze nach einer Frist von zwei Jahren überprüft werden. Ddenn oft wird Lobby-Einfluss erst im Nachhinein bekannt. Es sollte außerdem eine*n Lobbybeauftragte*n sowohl der Bundesregierung als auch des Bundestages geben und eine Clearingstelle, die den Abgeordneten dabei hilft, sich gegenüber Lobbyist*innen korrekt zu verhalten.

Warum gibt es so etwas nicht?
Weil es keine klaren Verhaltensregeln gibt! Und weil bezahlte Nebentätigkeiten für Unternehmen, die von den Abgeordneten-Entscheidungen profitieren, weiterhin legal sind.

Was wäre hilfreich?
Nach der Politik sollte es eine dreijährige Abkühlfrist geben mit dem Verbot, im ehemaligen Tätigkeitsfeld als Lobbyist*in zu arbeiten.

Bei welchem Angebot eines Lobby-Vereins würden Sie schwach werden?
Ich habe wie 40 andere Abgeordnete den von mir und Gerhard Schick erarbeiteten „Verhaltenskodex für Abgeordnete“ unterzeichnet. Dadurch unterwerfen wir uns freiwillig Regeln. Der Kodex verbietet mir drei Jahre lang, nach meiner Zeit im Bundestag ins Lobbying zu wechseln. Damit stellt sich die Frage also gar nicht. Ansonsten könnte ich mir am ehesten einen Umweltverband oder Lobbycontrol vorstellen.

Interview: Maritta Strasser