Eine NaturFreunde-Broschüre zur neuen geologischen Erdepoche der Menschenzeit
Die Menschheit ist mit ihren technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten in eine neue geologische Erdepoche eingetreten, dem Anthropozän. Seit der Industriellen Revolution ist der Mensch zur stärksten Naturgewalt aufgestiegen. Das ist ein Wendepunkt, der neue Antworten verlangt.
Der Vorschlag, die Erde neu zu bestimmen, geht auf den Atmosphärenwissenschaftler Paul J. Crutzen zurück, der ihn 2002 in der Zeitschrift Nature näher begründet hat. Die Internationale Gesellschaft der Geologen (IUGS) griff den Vorschlag auf und beauftragte ihre Stratigraphische Kommission (ICS), die für die Bewertung der Erdgeschichte zuständig ist, mit einer intensiven Prüfung. 2015 nahm der 34. Weltkongress der Geolog*innen in Kapstadt die Empfehlung an, die heutige Erdepoche Anthropozän zu nennen.
Die menschlichen Eingriffe in die natürlichen Lebensgrundlagen sind in den letzten Jahrzehnten derart eskaliert, dass der Mensch das Steuer über die Entwicklung unseres Planeten übernommen hat. Damit kommen wir an ein Ende der Erde, so wie sie zur Heimat der Menschen geworden ist. Denn insbesondere die Klimakrise zeigt: Die Natur schlägt zurück. Wenn es nicht schnell zu einem radikalen Umbau kommt, wird die menschliche Zivilisation sich selbst zerstören. Das ist die große Bedrohung im Anthropozän. Die Chance der neuen Erdepoche dagegen ist, dass die Menschen angesichts der Tragweite der Herausforderung endlich mit der sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft beginnen.
Auch wenn das genaue Anfangsdatum für das neue Erdzeitalter, der so genannte golden spike, noch nicht endgültig bestimmt ist, gehen die Wissenschaftler*innen in großer Mehrheit davon aus, dass der Beginn auf die 1950er-Jahre festgelegt werden sollte, als es in den Industriestaaten zur Great Acceleration, also zur Großen Beschleunigung – kam. Massenproduktion, Massenkonsum und Massenmobilität sowie neue synthetische Stoffe und die Freisetzung von Radionukliden spitzten das schwierige Wechselverhältnis Mensch – Natur zu, die Umweltschädigungen haben seitdem eine globale Dimension angenommen.
Die NaturFreunde Deutschlands haben die Herausforderungen des Anthropozäns ins Zentrum ihres Bundeskongresses 2021 gestellt. Wir sehen die Menschenzeit nicht nur als eine naturwissenschaftliche Einordnung an, nicht nur als eine Frage der Umweltund Klimapolitik, sondern in erster Linie als eine gesellschaftspolitische Herausforderung. Die Sichtweise der NaturFreunde ist: Unsere Zeit braucht tiefgreifende Strukturreformen, die weit über die ökologischen Problemstellungen hinausgehen, aber eng mit der sozialen Frage verbunden sind. Deshalb müssen wir zu einer sozial-ökologischen Gestaltung kommen, die von der Endlichkeit des Erdsystems und den ökologischen Grenzen des Wachstums ausgeht. Das verlangt eine Welt, die weder Mangel noch Überfluss kennt.
In den letzten Jahrhunderten stieg die europäische Moderne zum Weltmodell auf, insbesondere ihre leitenden Ideen von Aufklärung, Vernunft und Fortschritt, der vom Gedanken der Linearität ausgeht. Seit der Industriellen Revolution und der gewaltigen Entfaltung der Produktivkräfte setzte sich immer stärker der Glaube an eine ständige Vorwärtsbewegung der Menschheit auf der Basis von wirtschaftlichem Wachstum und technischem Fortschritt durch. Dabei wurde aus dem Weg zum Fortschritt mehr und mehr das Ziel des Fortschritts. Die Vordenker*innen der Moderne vor 200 und mehr Jahren konnten sich ökologische Grenzen des Wachstums nicht vorstellen. Insofern haben wir es heute auch mit einer tiefen Krise der unvollendeten europäischen Moderne zu tun. Wir NaturFreunde wollen Umwelt- und Klimapolitik zur Gesellschaftspolitik machen. Es entspricht unserer Geschichte, soziale und ökologische Gerechtigkeit miteinander zu verbinden, heute erst recht nicht ergänzend oder kompensatorisch, sondern als festes Grundprinzip für die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft, als Grundlage für mehr Demokratie und Wohlfahrt.
I. Das neue Erdzeitalter: das Anthropozän
Um neue Antworten zu geben, müssen wir auf der Höhe der Zeit sein. Wir dürfen uns nicht dem Regime der kurzen Frist anpassen, das heute nicht nur wirtschaftliche Entscheidungen bestimmt, sondern auch die mediale Debatte. Das Resultat ist entweder ein falscher Optimismus oder ein kontraproduktiver Pessimismus, weil nur die Ereignisse gesehen werden, die je nach Anlass die öffentliche Aufmerksamkeit finden.
Politisch sein bedeutet, unter die Oberfläche schauen, längerfristige Entwicklungstrends erkennen und gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen. Gerade vor dem Hintergrund der ökologischen Herausforderungen müssen naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die für die Zukunft der menschlichen Zivilisation von entscheidender Bedeutung sind, frühzeitig aufgegriffen werden.
Politische Gestaltung ist möglich, sozial und ökologisch, denn Wirtschaft und Technik sind Prozesse, in die neben Verwertungsinteressen, Konkurrenz und wirtschaftlicher Macht auch Infrastruktur, technischer und organisatorischer Standard, gesellschaftliche Machtverhältnisse und kulturelle Werte einfließen. Naturverhältnisse sind auch Herrschaftsverhältnisse, die Machtverhältnisse prägen auch den Zustand der Natur.
Das Anthropozän-Konzept macht die kritische Gesellschaftstheorie nicht überflüssig. Im Gegenteil: Es kommt darauf an, die Ökologie in die Wirtschaft und Gesellschaft zu integrieren und sie sozial und ökologisch zu gestalten. Auf der Höhe der Zeit zu sein, das ist die Voraussetzung, um politisch gestalten zu können. Ganz so wie es in dem Abschiedsbrief Willy Brandts von 1992 an die Sozialistische Internationale hieß: „Jede Zeit braucht ihre Antworten.“
Der Vorschlag, die heutige geologische Erdepoche nicht länger Holozän, sondern Anthropozän zu nennen, also das „vom Menschen gemachte Neue“, geht auf Paul J. Crutzen zurück, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz. Allerdings findet das Anthropozän-Konzept in der politischen und öffentlichen Debatte bisher nicht die Aufmerksamkeit, die es dringend braucht. Das Anthropozän verlangt nicht weniger von uns, als die Ökologie zum Ausgangspunkt für Entscheidungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu machen. Nur so kann die Zukunft der Menschheit gesichert werden.
Crutzen, der 1995 für die Entschlüsselung der Mechanismen, die zum Abbau der lebensschützenden Ozonschicht führen, mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet wurde, stellt die Frage nach der Tragfähigkeit unseres Planeten für menschliches Leben und damit nach der Ausgestaltung der modernen Welt. Unsere Antwort ist die Weichenstellung für Zerstörung oder Rettung, für soziale Spaltung oder Gerechtigkeit, für Ausbeutung oder mehr Verantwortung. Das sind Grundfragen unserer Zivilisation.
Die Menschheit steht an einer Weichenstellung, an der sich ihre Zukunft entscheidet. Wohin das Pendel schlägt, das entscheiden wir heute.
Die Menschheit überschreitet ökologische Grenzen des Wachstums, die für das menschliche Leben essentiell sind. Derzeit leben wir, wie das der Club of Rome nennt, im Zustand der „Grenzüberschreitungen“, der durch die Anpassungsfristen im Erdsystem noch eine Zeitlang anhalten wird, dessen Konsequenzen sich dann aber umso härter auswirken werden.
Das Vorhandensein von Grenzen ist nicht vereinbar mit dem vorherrschenden Weltbild der modernen Gesellschaft, in dem durch technischen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum alles als machbar hingestellt wird. Der Hintergrund dieses mechanistisch- evolutionären Glaubens ist eine tief verwurzelte Naturvergessenheit, die ignoriert und verdrängt, dass die Tragfähigkeit der Erde zumindest für menschliches Leben endlich ist. Nahezu alle Vordenker*innen der europäischen Moderne verkannten den Eigenwert der Natur oder sahen darin ein nachrangiges oder gar kein Thema.
In der Erdgeschichte löst das Anthropozän das Holozän ab, das unseren Planeten in den letzten rund 12.000 Jahren zur Heimat der Menschen gemacht hat. Crutzen brachte im Jahr 2000 – zeitgleich mit dem amerikanischen Gewässerökologen Eugene F. Stoermer – den durch die Menschen verursachten grundlegend veränderten Zustand des Erdsystems auf einen Begriff, der weit über eine wissenschaftliche Feststellung hinausgeht. Auslöser war ein Vortrag auf einer Tagung des International Geosphere Biosphere Programme (IGBP) in Guernavaca (Mexiko), in dem ein Referent fortgesetzt von der Epoche des Holozäns sprach, ohne die Globalisierung der vom Menschen angerichteten Umweltschäden und ihre Folgen für die Geologie zu reflektieren. Crutzen widersprach und stellte damit die offizielle Einordnung in Frage.
Zwei Jahre später begründete er seinen Vorschlag in einem viel beachteten Beitrag in der Fachzeitschrift Nature:
„Auf Grund der anthropogenen CO2-Emissionen dürfte das Klima auf unserem Planeten in den kommenden Jahrtausenden signifikant von der natürlichen Entwicklung abweichen. Insofern scheint es mir angemessen, die gegenwärtige, vom Menschen geprägte geologische Epoche als ‚Anthropozän’ zu bezeichnen. Sie folgt auf das Holozän, jene gemäßigt warme Epoche, die sich über die letzten zwölftausend Jahre erstreckte.“
Die entscheidende Ursache für die neue Epoche sah Crutzen in der „Geologie der Menschheit“. Anthropozän ist damit eine Warnung an die Menschheit, die ökologischen Grenzen zu beachten. Der Begriff hat für die weitere Zukunft eine zentrale Bedeutung. Deshalb darf es nicht dazu kommen, dass er – wie das zum Beispiel bei der großen Leitidee der Nachhaltigkeit der Fall war – zu einem beliebig interpretierbaren Plastikwort verkommt, dessen eigentlicher Sinn mehr und mehr entleert wird.
Verantwortlich für die Prüfung des Vorschlags ist die International Union of Geological Sciences (IUGS). Sie geht zurück auf die britische Geological Society of London, die älteste und führende ihrer Art. Die IUGS griff Crutzens Vorschlag auf und beauftragte die zuständige Stratigraphische Kommission (International Commission on Stratigraphy Sciences/ICS) mit der Prüfung und wissenschaftlichen Bewertung. Ist es gerechtfertigt, von einer neuen Erdepoche zu sprechen?
Die Aufgabe der „Anthropocene Working Group“ war es, die Ablagerungen der letzten Jahrzehnte bis zurück zur Industriellen Revolution zu erfassen und in ein Verhältnis zu den unterschiedlichen Gesteinsschichten der rund 4,55 Milliarden Jahre alten Erdgeschichte zu setzen, in der die Entwicklung der Welt in einer chronologisch und hierarchisch gegliederten Abfolge von Äonen, Ären, Perioden und Epochen geordnet wird. Die Bestimmung der geologischen Zeitskala ist eine komplexe Wissenschaft nach strengen Maßstäben. Die ICS ist dabei eine Art vatikanisches Kardinalskollegium für die Erdgeschichte.
Seit 2,6 Millionen Jahren ist die Erde in der Periode des Quartärs, in deren letzten Epochen sich die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Menschen herausbilden konnten. Die nunmehr vorletzte Epoche ist das Holozän, das 1895 auf dem 3. Geologischen Kongress in London festgelegt wurde. Doch nach nur rund 12.000 Jahren ist das Holozän heute vorbei. Durch die Eingriffe der Menschen war es eine nach geologischen Maßstäben nur sehr kurze Epoche.
Trotz klimatischer Unterschiede der Erdregionen und einer natürlichen Klimavariabilität waren im Holozän die Lebensbedingungen für die Menschen relativ stabil, wodurch sich die menschliche Zivilisation herausbilden konnte (Sesshaftigkeit, Agrarwirtschaft). Der entscheidende Einschnitt, der den Wechsel zum Anthropozän einleitete, ist die Industrielle Revolution, die eine bis dahin unvorstellbare Expansion und Beschleunigung aller wirtschaftlichen und technischen Prozesse ausgelöst hat.
Die geistigen und materiellen Grundlagen für dieses neue Zeitalter wurden vor allem in der europäischen Moderne geschaffen, die in der Renaissance, der Epoche der Entdeckungen und Eroberungen, in Florenz ihren Anfang nahm. Von zentraler Bedeutung für das Wechselverhältnis Mensch – Natur waren die systematische Entfaltung von Wirtschaft und Technik und ihr Bündnis mit den fossilen Energieträgern, die 1786 mit der Erfindung des Watt‘schen Parallelogramms begann. Mit dem Durchbruch der Dampfmaschine eskalieren die Eingriffe in die Natur und die Einwirkungen auf die Öko-Systeme. In den letzten Jahrzehnten kam es zur Globalisierung der Umweltschädigungen.
Heute werden Plastik, Metalle und Abfall bis zu 30-mal mehr in den stratigraphischen Schichten der Erde als im natürlichen Prozess abgelagert. Durch Bebauung, Betonierung, Abholzung und landwirtschaftliche Nutzung werden Sedimente mindestens zehnmal schneller abgetragen. Gleich ob im Wasserkreislauf, bei der Bodenverfügbarkeit, Artenzerstörung oder in der Chemie und Dynamik der Atmosphäre: Bis Mitte des letzten Jahrhunderts wurde erst ein Drittel der ökologischen Schädigungen registriert, die in einer Gesamtbetrachtung der letzten 500 Jahre festzustellen sind.
Der Mensch nutzte die natürlichen Ressourcen für Wertschöpfung und Wohlstand, damit wurde er aber auch zu einer destruktiven Naturgewalt. Seine Eingriffe werden, so Crutzen, „auf Jahrtausende hinaus der maßgebliche ökologische Faktor“ sein, der die Kapazitäten der Natur untergräbt, die Lebensvoraussetzungen der menschlichen Zivilisation zu regulieren. Diese Eingriffe sind bereits so weit fortgeschritten, dass von „besiegter Natur“ die Rede ist.
2007 trug die ICS in einem ersten umfangreichen Bericht zahlreiche Belege für das Anthropozän zusammen. Auf dem 34. Weltkongress der Geolog*innen im südafrikanischen Kapstadt wurde die Empfehlung der ICS angenommen, unsere Erdepoche 10 NaturFreunde-Informationsbroschüre Anthropozän Anthropozän zu nennen. Um es mit Crutzen zu sagen: Die Menschheit ist in ein Zeitalter eingetreten, für das „in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung zu finden ist“. Damit verbindet er drei zentrale Botschaften:
- Die Menschheit steuert in einem rasanten Tempo auf den Zeitpunkt zu, an dem Klimakrise, Raubbau an den natürlichen Ressourcen und Zerstörung der Biodiversität im Zusammenspiel mit Hyperkonsum, nachholender Industrialisierung und Bevölkerungswachstum ein Ende der menschlichen Zivilisation denkbar machen. Der Verursacher ist der Mensch und die von ihm gewählte oder hingenommene Einrichtung der Welt mittels Wirtschaftsordnungen, Ausrichtung der technischen Entwicklung und persönlichem Verhalten. In der päpstlichen Enzyklika Laudato Si‘ heißt es dazu: „Infolge einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur läuft er [der Mensch] Gefahr, nicht nur sie [die Natur] zu zerstören, sondern auch selbst zum Opfer dieser Zerstörung zu werden.“ Insbesondere der Schutz der Biodiversität ist von daher als eine soziale Verpflichtung gegenüber nachfolgenden Generationen zu sehen. Der Naturschutz ist ein kulturelles Erbe unserer Gesellschaft. Die Natur- Freunde setzen sich dafür ein, Böden, Moore und Wälder besser und dauerhaft zu schützen.
- Nur der Mensch selbst kann die schwerwiegenden Schädigungen im Erdsystem wie den Zusammenbruch der landwirtschaftlichen Systeme, die Ausplünderung der Ressourcen, die Vernichtung der Tier- und Pflanzenarten und die Zuspitzung der Klimakrise stoppen und verhindern. Das setzt eine sozial-ökologische Gestaltung der technisch-ökonomischen Transformation voraus. Dafür reicht es nicht aus, Elektrizität, Wärme und Mobilität auf Erneuerbare Energien umzustellen, vielmehr müssen wir von der Tragfähigkeit unseres Planeten für menschliches Leben ausgehen und dafür auch Verbrauch und Nutzung natürlicher Lebensgrundlagen reduzieren. Ausgangspunkt sind die ökologischen Grenzen des Wachstums, die unvereinbar sind mit dem Schneller, Höher und Weiter, dass die Menschheit mit Fortschritt gleichsetzt. Mehr denn je stimmt der Satz von Erich Kästner: „Es geht auf keinen Fall so weiter, wenn es so weitergeht.“
- Das Anthropozän ist eine gesellschaftliche Herausforderung. Sie markiert eine tiefe Krise in der Entwicklung der (unvollendeten) Moderne, die mehr erfordert als Ergänzungen oder Teilkorrekturen. Diese Tragweite muss erkannt werden. Dafür müssen Sozialwissenschaft und Naturwissenschaft eng zusammenarbeiten, um NaturFreunde-Informationsbroschüre Anthropozän 11 keine „technokratischen Antworten“ zu geben, sondern die Tragweite der Herausforderung zu erkennen. Entscheidend ist, die große Leitidee der Nachhaltigkeit zu konkretisieren und auf ihrer Basis mehr Demokratie, Gerechtigkeit und einen neuen Fortschritt möglich zu machen.
II. Anthropozän = Menschenzeit
Kapitalismus und fossile Brennstoffe sind in den letzten 200 Jahren ein enges Bündnis eingegangen. Seit der Industriellen Revolution wurde unsere Welt immer stärker angetrieben von der Entfaltung der Produktivkräfte in Wirtschaft und Technik. Die Menschheit ist zur stärksten Treiberin geo-ökologischer Prozesse aufgestiegen.
Die Zweischneidigkeit des Fortschritts ergibt sich aus der Naturvergessenheit der unvollendeten europäischen Moderne.
Allein im letzten Jahrhundert wurden rund 50 Prozent der Erdoberfläche vom Menschen (bis heute sind es ca. drei Viertel der Landflächen insgesamt) umgepflügt, bebaut oder versiegelt. Monokulturen wurden angelegt, Wälder gerodet und verbrannt. Die CO2-Emissionen liegen heute 17-mal höher als vor 100 Jahren. Der Wasserverbrauch hat sich nahezu verzehnfacht. Mit den wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten des globalen Kapitalismus übersteigen die Eingriffe der Menschen die natürlichen Veränderungsprozesse, ohne jedoch deren Fähigkeit zu haben, ökologische Systeme zu stabilisieren. In der Folge werden planetarische Grenzen überschritten und die Grundlagen des menschlichen Lebens vernichtet.
Der Wissenschaftsjournalist Christian Schwägerl, der das Anthropozän mit Menschenzeit übersetzt, beschreibt den Vorgang so: „Der Mensch erschafft neue Landschaften, greift in das Weltklima ein, leert die Meere, erzeugt neuartige Lebewesen. Aus der Umwelt wird die ‚Menschenwelt’ – doch sie ist geprägt von Kurzsichtigkeit und Raubbau.“ Das Berlin-Institut beschrieb die Expansionsdynamik als „Trilemma des Wachstums“: Seit 1967 verdoppelte sich die Zahl der Menschen in nur 44 Jahren auf sieben Milliarden, der Energieverbrauch verdreifachte sich, die Kohlendioxidemissionen nahmen sogar um das Vierfache zu.
Immer mehr Plastik, Metalle und Abfall werden in die stratigraphischen Schichten der Erde abgelagert, in einzelnen Regionen bis zu 30-mal mehr als im natürlichen Prozess. Durch Bebauung, Betonierung und Landwirtschaft werden Sedimente mindestens zehnmal schneller abgetragen. Natürliche Ressourcen gehen in einem rasanten Tempo zu Ende. An einigen Küsten hat die Zuführung chemischer Düngemittel zu sauerstoffarmen Zonen geführt, in manchen Küstenregionen finden sich im Sand Unmengen an Mikroplastik. Die Methan-Emissionen in der Troposphäre haben sich verdoppelt, die Kohlendioxid-Konzentration liegt gegenüber dem natürlichen Wert um 40 Prozent höher.
Die Belastungen der Öko-Systeme, der Raubbau an den Ressourcen, die Zerstörung der Biodiversität und die Übersäuerung der Ozeane verändern das Erdsystem immer schneller und langfristig. Bei Öl und Wasser wird der Peak erreicht. Der Höhepunkt der Ölförderung wurde, so die Internationale Energieagentur, im Jahr 2008 erreicht, Mobilität droht zum Luxus zu werden. Die absehbare Knappheit bei Metallen ist noch gar nicht im Blickfeld, obwohl mit der Elektro-Mobilität enorme Mengen gebraucht werden, aber vor allem irreale Hoffnungen verbunden sind. Wo soll der Strom mit welchen Belastungen für die Natur herkommen, wenn die heutigen Quantitäten in den Industrieländern und ihr prognostiziertes Wachstum eingehalten werden? Welche Abhängigkeiten ergeben sich aus der Verteilung der Ressourcen? Alles weitreichende Fragen, die nicht nur ökonomisch, sondern auch militärisch relevant sind. Der Welterschöpfungstag, ab dem die Menschheit für den Rest des Jahres auf Pump der Natur lebt, wurde im Jahr 2021 bereits am 29. Juli erreicht. Im Jahr 2000 lag er noch im November. Erbitterte Verteilungskämpfe rücken näher.
Die Globalisierung der Umweltschädigung: Welterschöpfungstag, planetarische Grenzen des Wachstums, Zerstörung der Biodiversität, Klimakrise. Die Warnsignale sind eindeutig.
Die Menschheit bräuchte heute bereits 1,7 Erden, um die biologische Regenerationskraft unseres Planeten zu sichern. Weltweit erfordert Deutschlands ökologischer Fußabdruck sogar 2,9 Erden. Was für eine gewaltige Expansion auf einer Erde, deren Tragfähigkeit für menschliches Leben begrenzt ist! Um 1800 lag die Kohlenstoff- Konzentration in der Troposphäre bei 285 ppm, noch in diesem Jahrzehnt wird sie 430 ppm erreichen.
Kipppunkte im Erdsystem rücken schnell näher. Bei 1,8 Grad Celsius Erwärmung sterben die Korallenriffe, das zweitgrößte Öko-System der Erde, unwiderruflich ab. Die thermohalinen Strömungen des Atlantiks verschieben sich, immer häufiger sind Wetterextreme mit weitreichenden Folgen in Europa vor allem durch Starkregen in Mittelgebirgsregionen. In Afrika zieht sich das „Grüne Band“ weiter in Richtung Äquator zurück. Tropenwälder trocknen aus. Permafrostregionen tauen auf und setzen massenhaft Kohlenstoff frei. In der Folge beschleunigt sich die Klimakrise dramatisch und spitzt sich zu.
Mit anderen Worten: Wir leben im Zustand der „Grenzüberschreitungen“, denn wir schaffen heute bereits die „vollendeten Tatsachen“ von morgen, die künftig sichtbar werden und kurzfristig nicht mehr zu stoppen sind. Das bedeutet für das Klima: eine anthropogene Erderwärmung um 1,5 Grad Celsius ist faktisch nicht mehr zu verhindern. Vor allem in den letzten drei Jahrzehnten stieg der Kohlendioxid-Ausstoß stärker an, als das selbst in pessimistischen Szenarien des Weltklimarates befürchtet wurde. Die erste Schlacht, die Umsetzung des Kyoto-Protokolls, ging bereits verloren.
Wenn es nicht schnell zu einer radikalen Wende kommt, werden um das Jahr 2068 herum in der Troposphäre die Voraussetzungen geschaffen sein, dass es zu einem Anstieg auf 2 Grad Celsius kommt. Selbst eine Einhaltung der bei den Pariser Klimaverhandlungen 2015 vorgelegten Selbstverpflichtungen, von der wir weit weg sind, würde immer noch zu einem globalen Temperaturanstieg um 2,8 bis 3,2 Grad Celsius führen. Aber die Staaten der Welt denken an sich und nicht an die Weltgemeinschaft.
Seit 1979 wissen wir aus den Untersuchungen des amerikanischen Forschungsrates, dass eine Verdoppelung der CO2-Konzentration zu einer Erwärmung um drei Grad Celsius führen würde. Heute sind wir bei 420 ppm gegenüber 285 ppm zur Zeit der Industriellen Revolution, also dem natürlichen Wert. Heute rücken die befürchteten Kipppunkte (tipping-points) scheinbar unaufhaltsam näher. Und das Schlimme ist: Wenn wir sie zu spüren bekommen, sind die nächsten schon vorprogrammiert.
In den nächsten Jahren werden Wetterextreme auf jeden Fall zunehmen, im Anthropozän schlägt die Natur zurück. Was uns droht, wurde zuletzt Mitte Juli 2021 bei den gewaltigen Überflutungen im Westen Deutschlands sichtbar. Mit der Erderwärmung verstärkt sich der „feuchte Treibhauseffekt“, dessen Effekte durch den Transport von Energie und Feuchte zu Starkregen führen, der sich an Mittelgebirgen abregnet und Flüsse und Bäche in kurzer Zeit gewaltig anschwellen lässt. In anderen Erdregionen kommt es bereits zu außergewöhnlichen Dürreperioden, gewaltigen Orkanen oder dem Zusammenbruch landwirtschaftlicher Systeme.
Mit der Globalisierung der Umweltschäden droht dasselbe Wirtschaftswachstum, das im letzten Jahrhundert unser Leben angenehmer gemacht hat, nun unerträglich zu werden. Schon die schiere Quantität der Inanspruchnahme natürlicher Lebensgrundlagen wurde zur Achillesferse der modernen Gesellschaft. Denn gegenüber 1800 liegt die Beanspruchung der Öko-Systeme heute mindestens um das Hundertfache höher. Der Ressourcenverbrauch in den Industriestaaten ist pro Kopf um das Zwanzigfache gestiegen. Die Vernichtung natürlicher Arten liegt um das Hundert- bis Tausendfache höher. Hinzu kommen synthetische Stoffe, die in der Natur gar nicht vorkommen, sowie der radioaktive Fallout, der in den 1950er-Jahren besonders intensiv war. Zudem ist die Weltbevölkerung nahezu auf das Zehnfache angewachsen. Die Spuren, die der Mensch im Erdsystem hinterlässt, begründen das Anthropozän.
Im Jahr 2009 untersuchte ein 28-köpfiges Wissenschaftler*innenteam um Johan Rockström und Will Steffen, dem auch Paul Crutzen angehörte, in neun zentralen ökologischen Dimensionen, die für das Überleben der Menschheit essentiell sind, die Grenzen planetarischer Belastung (Planetary Boundaries). In drei davon – Klimawandel, Stickstoffkreislauf und Artenverlust – sind die Grenzen bereits überschritten. In drei weiteren – Süßwasser, Bodenfruchtbarkeit und Oberflächenwasser – sind die Belastungsgrenzen erreicht. Die chemischen Einwirkungen müssen weiter untersucht werden. Nur bei der Schädigung der Ozonschicht ist eine Verbesserung zu verzeichnen, knapp bevor es zu einer Katastrophe kam.
Diese Gefahren müssen vor dem Hintergrund weiterer mindestens zwei Milliarden Menschen, des modularen Massenkonsums, der nachholenden Industrialisierung großer Erdregionen und großer sozialer Unterschiede gesehen werden, woraus sich für unseren Planeten negative Synergien ergeben können, deren Folgen jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Auf jeden Fall markieren die planetarischen Belastungsgrenzen einen Wendepunkt der Moderne.
III. Die Klimakrise – Ground Zero der modernen Zivilisation?
Paul J. Crutzen begründet das Anthropozän mit verschiedenen globalen Umweltzerstörungen wie der Ausplünderung bestimmter Naturressourcen, dem Energieverbrauch oder der Ausrottung natürlicher Arten, aber er stellte seinen Vorschlag in erster Linie auf den vom Menschen verursachten Klimawandel ab. Mit ihm wurde ein beispielloses Experiment mit der Zerbrechlichkeit unseres Planeten begonnen. Angesichts der längerfristigen Anpassungsprozesse in der Chemie und Dynamik der Troposphäre wird ohne einen massiven und sofortigen Kurswechsel eine globale Erwärmung um zwei Grad Celsius nicht mehr zu verhindern sein, die im derzeitigen Trend zwischen 2065 und 2070 zu erwarten ist.
„Die Erde hat Fieber, unser Planet wird krank. Und der Mensch ist der Virus, der das Fieber in die Höhe treibt. Und an dem er selbst sterben kann.“ (Al Gore, „Wege zum Gleichgewicht)
Es sind zwar nur geringe Mengen an Spurengasen (THG), die das Klimasystem aus dem für das menschliche Leben kompatiblen Gleichgewicht bringen, aber die Wirkungen der THG sind gewaltig. Sie verändern die Strahlungsbilanz in der Troposphäre, so dass sich die „Atmosphärenfenster“ schließen. Die kurzwellige Wärmestrahlung von der Sonne wird als langwellige Wärmerückstrahlung von der Erde in der unteren Luftschicht durch Treibhausgase zurückgehalten. Die wichtigsten sind Kohlendioxyd (CO2), Methan (CH4), Chlorkohlenwasserstoffe, Distickstoffoxid (N2O), Ozon (O3) und Wasserdampf. Sie haben sehr unterschiedliche Anteile, Wirkungen und Verweilzeiten in der unteren Atmosphäre, in der die Wettermaschine der Erde angesiedelt ist. Bezogen werden alle THG auf CO2, das den größten Anteil stellt und der Leitindikator ist.
Zu den fundiertesten Dokumentationen des vom Menschen gemachten Klimawandels gehören die Sachstandsberichte (Assessment Reports/AR) des Intergovernmental Panel of Climate Change (IPCC). Der jeweilige Sachstandsbericht besteht aus vier Einzelteilen (AR 1 bis 6, Teile 1–4), die nach intensiver wissenschaftlicher Vorarbeit alle vier bis fünf Jahre vorgelegt, beraten und verabschiedet werden. Zudem gibt es Sonderberichte. Der erste Teil des jüngsten Sachstandsberichts (AR 6) wurde am 8. August 2021 veröffentlicht. Er weist noch detaillierter und konkreter als die ersten Sachstandsberichte nach, dass die Klimakrise auf die menschlichen Eingriffe zurückgeht.
Das IPCC koordiniert die Berichte im Namen der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) und des Umweltbüros der Vereinten Nationen (UNEP). Beteiligt an der Erarbeitung sind hunderte von Wissenschaftler*innen in verschiedenen Arbeitsgruppen, die auch zu Einwänden und Kritik ausführlich Stellung nehmen. Diese Arbeiten erscheinen in einem umfangreichen Gesamtwerk, das dann auf jeweils 80 bis 100 Seiten verdichtet wird. Daraus wiederum wird der Entwurf für einen Bericht an die politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsträger*innen (ca. 30 Seiten) vorgelegt, der auf vier IPCC-Konferenzen über mehrere Tage von den Vertreter*innen der knapp 200 Staaten, die dem IPCC angehören, in einem längeren und mühsamen Prozess beraten wird.
Der erste Teil des Berichts beschäftigt sich jeweils mit den wissenschaftlichen Grundlagen, die folgenden mit den Auswirkungen, den Gegen- und Anpassungsmaßnahmen und den zukünftigen Aufgaben und Forschungsbedarfen. Der erste Teil mit den wissenschaftlichen Prognosedaten wird auf der Grundlage der Klimageschichte (Eiskernbohrungen, Ablagerungen in der Tiefsee/Paläoklimatologie), Daten aus den Wetteraufzeichnungen und mehrdimensionalen Computersimulationsmodellen erarbeitet.
Dabei werden auch denkbare Extremvarianten aufgezeigt, deren Werte höher liegen als die im Trend angenommenen 2,5 bis 3 Grad bis 2100, die seit den 1980er-Jahren in dieser Bandbreite prognostiziert werden. Allerdings kann sogar ein globaler Temperaturanstieg bis zu 4 Grad Celsius Ende unseres Jahrhunderts nicht ausgeschlossen werden, weil ein möglicherweise stärker werdendes Verstärkungs- und Beschleunigungspotenzial denkbar ist.
Die Folgen der Klimakrise werden im IPCC-Bewertungsraster von „praktisch sicher“ (Wahrscheinlichkeit über 95 Prozent) in sieben Abstufungen bis zu „extrem unwahrscheinlich“ (Wahrscheinlichkeit unter 9 Prozent) eingeordnet. Die Folgen treffen vor allem die ärmsten Weltregionen, insbesondere Inselstaaten, Flussdeltas, Küstenregionen und Wüstenstaaten mit katastrophalen Auswirkungen. Die Erwärmung der ozeanischen Deckschichten verursacht immer häufiger Orkane und Überschwemmungen.
Um die Dimension der Klimakrise zu verstehen, müssen die längeren Anpassungsfristen zwischen den Emissionen und ihren vollständigen Auswirkungen im Klimasystem gesehen werden. Derartige, ja sogar noch längere Fristen zwischen Verursachung und Auswirkung gibt es auch zwischen dem Abschmelzen der Polgletscher und dem Anstieg des Meeresspiegels.
Die Klimakrise spaltet die Welt, denn die Folgen sind höchst ungerecht verteilt. Die Hauptverursacher*innen sind in der Regel nicht die Hauptbetroffenen. Aber das reichste 1 Prozent der Weltbevölkerung ist für 15 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich, während ganz Afrika mit einem Anteil von 18 Prozent an der Weltbevölkerung gerade einmal auf 3 Prozent kommt.
Durch die Mechanismen der zeitlichen Verzögerungen und der geografischen Trennung zwischen Emissionen und Folgewirkungen werden vor allem ökologisch sensible Regionen, die nur über begrenzte Möglichkeiten verfügen, sich schützen zu können, faktisch schon abgeschrieben. Für sie gibt es keine Rettungsschirme. Aber weil Schutz und Vorsorge vernachlässigt wurden, stehen seit einigen Jahren Anpassungen an die Folgen der Klimakrise im Zentrum der jährlichen Klimakonferenzen (Conference of parties/COP). Aber Anpassung ist in vielen Regionen faktisch aus finanziellen, technischen und geografischen Gründen nicht möglich. Die Spaltung der Welt wird vertieft.
Die Debatte über die vom Menschen gemachte Erderwärmung begann 1979 mit einer Studie des amerikanischen Forschungsrates. Sie zeigte auf, dass eine Verdoppelung des Kohlendioxid-Anteils in der Troposphäre zu einer Erwärmung um 3 Grad Celsius führen würde. Sie wurde damals nur wenig beachtet, dennoch kam es in den 1980er-Jahren zu wichtigen UN-Klimakonferenzen. Als engagierte Wissenschaftler* innen 1986 in Deutschland eine Warnung vor dem vom Menschen gemachten Klimawandel veröffentlichen wollten, intervenierte das Bundesforschungsministerium, weil es im Bundestagswahlkampf Anfang 1987 keine kritische Debatte wollte. Doch die beiden federführenden Wissenschaftler bei der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) und der Deutschen Meterologischen Gesellschaft (DMG) nahmen ihre Arbeit und Verantwortung sehr ernst und ließen sich nicht ausbremsen. Zwar wurde ihr Manifest nicht mehr 1986 veröffentlicht, aber doch wurde die Denkschrift von Hartmut Graßl und Klaus Heinloth im Frühjahr 1987 veröffentlicht:
„Es besteht der begründete Verdacht, dass schon innerhalb der nächsten 100 Jahre die mittlere Temperatur an der Erdoberfläche um etwa 3 Grad Celsius ansteigen wird. Dieser Temperaturanstieg wäre regional und jahreszeitlich durchaus unterschiedlich hoch, in den Tropen etwa halb so hoch, im polaren Winter dagegen etwa dreimal so hoch wie im Mittel.“
In demselben Jahr setzte der Deutsche Bundestag die Klima-Enquete „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ ein, die drei Jahre später „Schutz der Erdatmosphäre“ hieß, da Vorsorge bereits illusorisch erschien. Ihr gehörten hochrangige Wissenschaftler* innen an, zu denen auch Paul J. Crutzen zählte, ebenso Graßl und Heinloth. In den ersten 18 Monaten beschäftigte sich die Klima-Enquete schwerpunktmäßig mit dem Schutz der Ozonschicht. 1985 war es nämlich zum großen Schock gekommen, als die Messungen der britischen Antarktis-Station Halley Bay ergaben, dass die Ozonschicht gegenüber 1979 um rund 40 Prozent abgenommen hatte. Auf die Kommission ging das deutsche und auch EU-weite Verbot der Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) und Halone zurück, die unter anderem als Kältemittel, für NaturFreunde-Informationsbroschüre Anthropozän 19 Flammschutz und in Spraydosen eingesetzt wurden. Sie sind Hauptverursacher für die Zerstörung der lebenswichtigen Schutzschicht in der Stratosphäre, haben aber auch einen Anteil an der Erderwärmung.
Zugleich wurden umfangreiche Studien für ein Klimaschutzprogramm eingeleitet. Schon 1988 machte die Kommission einstimmig die Feststellung, dass für den Klimaschutz die Energieversorgung von der vorherrschenden Angebotsstrategie durch Großkraftwerke auf Energiedienstleistungen umzustellen sei. Diese Nachfragestrategie ist mit der ineffizienten Atomenergie (Wirkungsgrad der eingesetzten Energie nur rund 30 Prozent) unvereinbar, die auf einen hohen Stromverbrauch ausgerichtet ist, eine Kopplung mit Wärme nicht zulässt und insgesamt systembedingt Energiedienstleistungen über die gesamte Prozesskette und Klimaschutz nicht zulässt. Wenn behauptet wird, die Atomenergie emittiere kein CO2, so werden sowohl die Emissionen über die gesamte Prozesskette ignoriert als auch Alternativen, die ein sehr viel höheres Einsparpotenzial möglich machen.
Die Energiewende baut auf drei Säulen auf: Energiedienstleistungen durch eine Effizienzrevolution, bei der die Steigerung der Energieproduktivität höher liegt als das wirtschaftliche Wachstum, Einsparen (Suffizienz) und Erneuerbare Energien.
1990, bereits vor 31 Jahren, ging die Klima-Enquete des Deutschen Bundestages von einer Erwärmungsobergrenze von 1,5 Grad Celsius aus. Sie legte dafür weltweit das erste konkrete und durchgerechnete Treibhausgasminderungsszenario vor, eine Pionierleistung, die allerdings einen grundlegenden Kurswechsel verlangt hätte. Heute wären, wenn Politik und Gesellschaft dem Vorschlag über 2005 hinaus gefolgt wären, die Treibhausgase um rund 70 Prozent niedriger. Dazu ist es nicht gekommen, obwohl die Vorschläge einstimmig im Bundestag unterstützt wurden und es sogar zu einem entsprechenden Kabinettsbeschluss unter der Leitung von Helmut Kohl gekommen war. Auch die Energiewende wurde reduziert auf die Erneuerbaren Energien und nur im Strombereich. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wurde jedoch gedeckelt und verbogen. Und es wurde nicht, was unverzichtbar ist, mit einer Effizienzrevolution und mit Suffizienz verbunden.
Der grüne Umweltminister Jürgen Trittin verkündete im Jahr 2002 das Ende der deutschen Vorreiterrolle – zwar nicht öffentlich, aber intern gegenüber den Umweltsprecher* innen der Regierungsfraktionen, die bereit waren, für mehr Klimaschutz zu kämpfen. Seitdem zählten offiziell nur die Verpflichtungen aus dem unzureichenden Kyoto-Protokoll, das 1995 auf Druck der USA das Grandfathering-Prinzip festlegte, das den wirtschaftlichen und politischen Interessen der USA entgegenkam. Das war eine bewusste Abweichung von dem UN-Gleichheitsgebot für alle Länder, denn danach wäre die Vorgabe eine Festlegung auf zwei Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr gewesen, die den Industriestaaten sehr viel mehr abverlangt hätte. Dagegen ist das Grandfathering Prinzip gleichsam ein Bonus für die Industrieländer.
Wie taktisch und interessensbezogen das war, zeigte sich anschließend daran, dass die USA das Kyoto-Protokoll dennoch mit der Begründung ablehnten, die Schwellenländer seien bei der Regelung nicht einbezogen worden. Verlogener geht es kaum. Global stiegen die Treibhausgase auf neue Rekordhöhen. Gegenüber dem Ausgangsjahr für den globalen Klimaschutzrahmenvertrag von 1992, der einstimmig auf dem UN-Erdgipfel in Rio de Janeiro beschlossen wurde und zu einer schnellen Senkung des Treibhausgase führen sollte, haben sich die Kohlendioxid-Emissionen seitdem verdoppelt.
Die Hauptbetroffenen der Klimakrise liegen in den ökologisch sensiblen Weltregionen. Aber auch in Europa und in Deutschland werden sich schon bald die Folgen zuspitzen. In unserem Land werden die Wetterextreme zunehmen. Hochwasser und Stark-regen werden immer häufiger auftreten und insbesondere in Mittelgebirgsregionen kleine Bäche und Flüsse zu gewaltigen Strömen mitreißendem Hochwasser machen. In Regionen mit Monokulturen und sandigen Böden wie Brandenburg wird sich insbesondere das Waldsterben verschärfen. In der Alpenregion werden die Gletscher schnell verschwinden mit Folgen für den Wasserkreislauf und die Festigkeit der Gebirgszonen. Die Küstenregionen und Inseln vor allem der Nordsee sind gefährdet.
Anfang der 1990er-Jahre drehte sich der Wind, vor allem die Kohleindustrie machte weltweit Druck, auch in Deutschland. Klimaschutz war in der Folge kaum mehr als die ökologische Dividende der deutschen Einheit nach dem Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, zumal der Aufbau der neuen Bundesländer nicht mit dem Umbau der alten Bundesrepublik verbunden wurde. Der Westen hat im Systemkonflikt gesiegt, die Folgen waren Ignoranz und Arroganz gegenüber Veränderungen. In Ostdeutschland kam es nicht zur Sanierung der ehemaligen DDR-Wirtschaft, sondern zur Abwicklung der Unternehmen. In der Folge gingen in den neuen Bundesländern NaturFreunde-Informationsbroschüre Anthropozän 21 die CO2-Emissionen um über 50 Prozent zurück und bezogen auf Gesamtdeutschland um rund 12 Prozent.
In Westdeutschland tat sich nach den anfänglichen Versprechen, mehr für den Klimaschutz zu tun, kaum etwas. Wichtige Gründe waren: Die Belastungen der deutschen Einheit waren weitaus höher als die Reserven „in der Portokasse“, aus der Helmut Kohl die Einheit bezahlen wollte. Deutschland wurde wirtschaftlich zum „kranken Mann“ in der Europäischen Union. Die Wirtschaft machte Druck gegen die Umweltpolitik. Die „Klimaleugner“, die penetrant wissenschaftliche Erkenntnisse abstritten, kamen auf. Zwar wurde 2007 von Umweltminister Sigmar Gabriel ein neuer Anlauf unternommen, aber auch der verpuffte bald, zumal es keine Hilfe aus dem Kanzleramt gab.
IV. Die ökologische Krise verschärft soziale Unterschiede
Das Anthropozän muss vor dem Hintergrund der dominanten Ideologie des Schneller, Höher und Weiter, der ungleichen Verteilung des Reichtums, des hohen Ressourceneinsatzes, des modularen Hyperkonsums, der nachholenden Industrialisierung großer Schwellenländer und armer Staaten sowie des anhaltenden Bevölkerungswachstums gesehen werden. In der päpstlichen Enzyklika Laudato Si‘ heißt es dazu, dass wir es heute nicht nur mit einer ökologischen Krise zu tun haben, nicht nur mit einer sozialen und auch nicht nur mit einer ökonomischen, sondern mit einer einzigen, komplexen Krise der Moderne, ausgelöst von einem „fehlgeleiteten Anthropozentrismus“ durch die Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum, technischen Fortschritt (Globalisierung des technokratischen Paradigmas) und Marktgläubigkeit. Das geschieht in einer Zeit, in der es nur wenig Interesse an theoretischer Durchdringung gesellschaftlicher und ökonomischer Grundfragen gibt.
Wir müssen wieder lernen, unter die Oberfläche zu schauen, Entwicklungstrends zu erkennen und Zusammenhänge zu verstehen. Unsere Zeit braucht ein explizit utopisches Denken.
Das Prinzip des Gemeinwohls und der Generationengerechtigkeit muss gestärkt werden. Investitionen in die Erneuerung der (ökologischen) Infrastruktur sind allemal viel wichtiger als die Verschwendung von Finanzmitteln für riesige Wolkenkratzer, monströse Luxusbauten, Spekulationsblasen, Mega-Boni und steigende Rüstungsausgaben. Entscheidend ist, dem öffentlichen Wohl die Priorität vor individuellem Reichtum einzuräumen.
Die bisherigen Denkweisen können die Klimakrise nicht stoppen. Umso schlimmer ist es, wenn nicht über den Horizont des neoliberalen Kapitalismus hinausgeblickt wird. Dann droht das, was bei den Extremwetterereignissen in der letzten Zeit, auch bei der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands, im „kleinen Maßstab“ geschehen ist: Die Klimakrise wird zur Konfliktlage der weiteren Zukunft.
Ärmste Weltregionen werden schon bald dem Klimawandel geopfert. Schon in wenigen Jahren droht 29 Entwicklungsländern eine Verringerung der Ernteerträge um mindestens 20 Prozent. Hunger, Unterernährung und Tod werden die Folgen der Erderwärmung sein. Besonders betroffen sind Afrika, wo sich Wüstengebiete weiter ausbreiten und landwirtschaftliche Systeme zusammenbrechen werden, Flussdeltas und niedrige Küstenregionen sind besonders gefährdet, ebenso Inselstaaten. Ein Vergleich zwischen Holland und Bangladesh, deren Küsten beide auf derselben NNHöhe liegen, zeigt, dass das asiatische Land ungleich härter betroffen sein wird, ohne über die Möglichkeiten zu verfügen, sich schützen zu können.
Die Klimakrise bedeutet, dass die Armen noch ärmer werden. Nach Schätzung der Vereinten Nationen werden in zehn Jahren mindestens zwei Milliarden Menschen in Slums leben, oft am Rande unregierbarer Mega-Citys mit geballten Energie-, Ernährungs- und Entsorgungsproblemen. Überall sind ökologische und soziale Probleme eng miteinander verbunden.
Von daher: Die ökologische Frage und die Antworten darauf entscheiden über den Zusammenhalt der Gesellschaften. Ohne den Zusammenhalt der Gesellschaft werden die ökologischen Herausforderungen nicht zu bewältigen sein. Von daher ist richtig, was in Laudato Si‘ steht: „Wir dürfen nicht nur die Wunden der Natur sehen, wir müssen auch die Wunden der Menschen sehen.“ Andernfalls droht das 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert neuer Gewalt und erbitterter Verteilungskämpfe zu werden.
V. Die Krise der europäischen Moderne
Das Anthropozän-Konzept zwingt uns, Grundfragen der unvollendeten europäischen Moderne neu zu bewerten. Das gehört auch zu Aufklärung, Freiheit, Vernunft und Verantwortung, die für die europäische Moderne leitend waren. Der falsche Dualismus Mensch – Natur hat auch seine Wurzeln in der europäischen Ideengeschichte des Fortschritts, dessen Folie die aus der Antike vertraute Vorstellung einer „Stufenleiter des Seins“ ist. Danach werden die Lebewesen von einfachsten bis zu den komplexesten Erscheinungen geordnet. Das zeitlich Spätere ist danach immer das Höhere. Dieser Glaube an die Vorwärtsentwicklung der Zivilisation entstand im europäischen Rationalismus und wurde mit der Emanzipation des Menschen begründet und mit der Orientierung auf die Naturwissenschaften gefördert. Die Ausrichtung auf die Linearität wurde zur Grundlage des Fortschritts, zu einer säkularisierten Heilsbotschaft.
Die Grundlagen der europäischen Moderne waren die Ideale der französischen Revolution, die britische Staatslehre und die deutsche Philosophie. Das war, so Max Weber, die „europäische Rationalität mit Weltbeherrschung“. Sie hat fundamentale Voraussetzungen für den Fortschritt der europäischen und neoeuropäischen Gesellschaften geschaffen. Auch die sozialistische Bewegung ist ein „Kind“ der europäischen Moderne, sieht aber die Befreiung des Menschen erst durch eine Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft verwirklicht.
Die europäische Moderne ist ein Produkt des Rationalismus, getragen von den Idealen der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit –, der deutschen Philosophie und der britischen Staats- und Wirtschaftslehre. Die leitende Idee war die Idee der Emanzipation des weißen Menschen. Sie ist aber auch geprägt von einem Dominanzdenken und der immer stärkeren Ausrichtung auf Wirtschaftswachstum und technischen Fortschritt.
Aufklärung und Befreiung leiteten nach dem dunklen Mittelalter die Epoche der Erleuchtung (Lichtmetaphorik) ein. Das Verständnis der Zukunft war das Neue. Die Aufklärung wollte die vorgegebenen Verhältnisse nicht hinnehmen, sondern vornehmlich mit Hilfe der Naturwissenschaften freiheitlicher gestalten. Es war das Zeitalter der Erleuchtung. Die Idee der Emanzipation (der Befreiung) des Menschen nahm den zentralen Stellenwert ein. Aufklärung und Vernunft wurden zur Hoffnung auf die Humanisierung der Gesellschaft, die Bändigung von Gewalt, eine Kultur der Anerkennung und die Beseitigung von Armut und Elend. Damit verbunden war das Ziel einer friedlichen Welt, in der sich alle gleich und frei begegnen und jeder nach seinen Vorstellungen ohne Diskriminierung leben sollte.
Das Industriezeitalter wurde zum Motor des Fortschritts, aber auch zum Zerstörer der natürlichen Lebensgrundlagen. Diese Ambivalenz muss vor dem Hintergrund der europäischen Ideengeschichte des Fortschritts gesehen werden. Fortschritt ist danach ein offener, prinzipiell nicht abschließbarer Prozess. Er ist ein Versprechen auf Verbesserung und Erleichterung des Lebens. Er folgt der Idee der Linearität, dem Glauben an eine permanente Vorwärtsbewegung der modernen Gesellschaft durch die Hinwendung zu den Naturwissenschaften und zur „Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen“ (Immanuel Kant).
Natürlich gibt es eindrucksvolle Beispiele für Fortschrittlichkeit, aber Fortschritt wurde auch zur Bedrohung, schon weil er im Verhältnis Mensch – Natur fortlaufend Prozesse auslöst, deren Folgen sich die Ideengeber*innen der Moderne vor 200 und mehr Jahren nicht haben vorstellen können. Sie gehen zu Lasten der Natur, richten sich am Ende aber gegen die Menschen selbst. Die großen Pioniere der Moderne, der Aufklärer Francis Bacon, der Rationalist René Descartes, der Staatsrechtler John Locke oder der Volkswirt Adam Smith, sie alle haben die Bedeutung der Naturverhältnisse nicht, kaum oder falsch gesehen. Hierin zeigt sich heute die große Schwachstelle der europäischen Moderne.
Ihre Ideen waren allerdings auf den europäischen Kulturkreis und die damalige Dominanz des weißen Mannes bezogen. Dabei wurde auch der Gegensatz Mensch – Natur radikalisiert. Seit der Industriellen Revolution verengte sich die Sicht von Fortschritt auf wirtschaftliches Wachstum und die massenhafte Entfaltung technischer Innovationen. Die ökologischen Folgen, die aus der Globalisierung der Umweltzerstörung entstehen, waren noch nicht vorstellbar gewesen.
René Descartes vertrat die These, dass der Mensch mittels der methodischen Anwendung von Wissenschaft und mathematischer Rationalität „Maître et Possesseur de la Nature“ sei, sowohl um sich zu schützen als auch um ihre Ressourcen hemmungslos zu nutzen. John Locke, der Ideengeber der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, sah „in der Negation der Natur den Weg zum Glück“. Die Natur wurde von ihnen weit überwiegend instrumentell gesehen. Es entstand das falsche Verständnis von Umwelt statt Mitwelt, das in die heutige ökologische Krise geführt hat. Die Natur sollte – wie es bei dem Aufklärer und Hexenmeister (!) Francis Bacon („Wissen ist Macht“) heißt – auf die Folterbank der Experimente gespannt werden, um ihr die Geheimnisse zu entreißen.
Die europäische Moderne ist sicher unzureichend und unvollendet, aber sie hat unbestritten wichtige Verbesserungen möglich gemacht. Doch in ihrer Naturvergessenheit, ihrer männlichen Überhöhung und ihrer Dominanz mit totalen Machtansprüchen sowie ihrer Fixierung auf Europa beziehungsweise Neoeuropa zeigen sich schwerwiegende Fehler, Defizite und Überheblichkeiten, wie sie von Theodor Adorno und Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ eindringlich beschrieben wurden. Das Anthropozän-Konzept eröffnet heute die Chance auf notwendige Korrekturen, es stellt vor allem zwei Schwachstellen der unvollendeten Moderne deutlich heraus:
- Die Menschheit ist mit der Globalisierung der Umwelteingriffe an einen Punkt gekommen, an dem sie sich selbst vernichten kann.
- Nur wenn der Mensch zu radikalen Reformen kommt, also sich befreit, kann er die Selbstvernichtung verhindern. Die Voraussetzungen dafür sind sowohl eine Beendigung der technisch-ökonomischen Zwänge als auch eine Weltinnenpolitik auf der Basis einer sozial-ökologischen Gestaltung der Transformation.
Erstens: Die Menschheit muss lernen, mit „vollendeten Tatsachen“ umzugehen, die erst in der weiteren Zukunft auf uns zukommen werden, aber heute bereits programmiert werden. Die anthropogenen Eingriffe in das Klimasystem haben insgesamt eine zeitliche Anpassungsfrist, bis die Auswirkungen der Emissionen in ihrem ganzen Umfang deutlich werden, auch wenn sich einzelne Auswirkungen wie Überflutungen und Extremwetter direkt zeigen. Heute treffen uns überwiegend die Folgen der Treibhausgasemissionen aus dem letzten Jahrhundert. Ein Großteil der weiteren Klimaverhältnisse sind also nicht mehr zu verhindern. Doch die Büchse der Pandora wird weiter geöffnet. Das übliche Muster, erst zu reagieren, wenn Ereignisse eintreten, kann das Überschreiten von Kipppunkten nicht verhindern.
Zweitens: Die Welt steuert immer schneller auf den verhängnisvollen Zeitpunkt zu, an dem das Zusammenspiel von Klimakrise, Ressourcenabhängigkeit, ökonomischen Verwertungsinteressen, sozialer Ungleichheit und weiteren 1,5 Milliarden Menschen negative Folgen erzeugen wird, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Die Klimakrise wird in erster Linie die Epizentren ökologischer Verletzlichkeit treffen, die in armen Weltregionen liegen, denn die Folgen der globalen ökologischen Krisen sind zeitlich, räumlich und sozial höchst ungerecht verteilt.
Besonders stark betroffen sind ökologisch sensible, meist sehr arme Weltregionen sowie Inselstaaten. Damit wächst die Gefahr, dass sich der reiche Teil der Welt als Erste Klasse versteht, dessen Bürger und Bürgerinnen versuchen, sich vom Rest eines unwirtlich werdenden Planeten durch hochgesicherte grüne Oasen des Wohlstands und der Hochtechnologie abzuschotten. Die geographische Trennung zwischen Emissionsquellen und Zerstörung droht zur Ursache neuer Gewalt und erbitterter Verteilungskämpfe zu werden, aus denen Klimakriege erwachsen können.
Die Klimakrise und das Anthropozän müssen aus der Entwicklung der menschlichen Zivilisation erklärt werden. Sie sind Ausdruck einer tiefen Krise der europäischen Moderne.
Drittens: Der Klimaschutz kommt nur langsam voran, solange es keine mutigen Konzepte gibt, die den ökologischen Herausforderungen eine ganzheitliche Vision des menschlichen Fortschritts entgegenstellen. Klimaschutz ist keine Ergänzung oder Teilkorrektur der bisherigen Gesellschaftssysteme, die Belastungen und Ungleichheiten können nicht einfach kompensiert werden.
Ein neuer Weg des Fortschritts ist notwendig, der auf der Idee der nachhaltigen Entwicklung aufbaut und nicht länger dem blinden Schneller, Höher und Weiter folgt. Das erfordert die Bereitschaft, über den Horizont des neoliberalen Kapitalismus hinauszublicken und sowohl den Schutz der sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen unmittelbar in der wirtschaftlichen Entwicklung zu verankern, als auch die primären Verteilungsstrukturen gerechter zu organisieren.
Viertens: Die Tragfähigkeit der Erde für menschliches Leben kann nur bewahrt werden, wenn es zu einer Welt kommt, die weder Mangel noch Überfluss kennt. Die sozialen und ökologischen Anforderungen an ein gutes Leben für alle müssen unmittelbar im wirtschaftlichen Reproduktionsprozess verankert werden. Das verlangt mehr als den Ausbau der erneuerbaren Energien, die Einführung einer CO2-Steuer und die Durchsetzung technischer Innovationen, vielmehr stellt sich die Gestaltungs- und Verteilungsfrage in neuer Schärfe, soll die Tragfähigkeit der Erde für menschliches Leben gesichert werden.
Es wäre falsch, die Bewältigung der Hochwasserfolgen allein in technisch-finanziellen Hilfen zu sehen, die an die Betroffenen verteilt werden, um das Bisherige zu sichern und wiederherzustellen. Die Erneuerung der Infrastruktur, ergänzt um einige Dämme, reicht nicht aus. Es darf kein Weitermachen wie bisher geben. Die Prognosen über die Entwicklung des Erdsystems sind dramatisch, der Zustand der Ozeane so schlecht wie nie zuvor, die Konzentration der Treibhausgase auf einem Rekordniveau.
Am 22. September 2021 wurde der von der EU-Kommission in Auftrag gegebene „Ocean State Report“ des Copernicus Marine Service veröffentlicht: „Extreme Schwankungen aufgrund von Hitze- und Kältewellen in der Nordsee stehen in einem direkten Zusammenhang mit einem Rückgang des Fischfangs – insbesondere Seezunge, Hummer, Seebarsch, Meerbarbe und Taschenkrebse“ sowie „Verschmutzungen durch Industrie und Landwirtschaft führen zur Eutrophierung der Meere und beeinträchtigen die empfindlichen Ökosysteme“. Wir brauchen eine Integration der Natur in den wirtschaftlichen Prozess selbst.
Nur einige Beispiele für die heutige Negativbilanz: Seit 2001 gingen etwa 400 Millionen Hektar Bäume durch Holznutzung, Brandrodung und Abholzung verloren, Tag für Tag werden Abertausende Hektar versiegelt und verbaut. Schon heute sind nahezu 75 Prozent der Landflächen unseres Planeten durch Erosion, Versalzung, Bebauung, Flächenumwandlung und Austrocknung degradiert, versiegelt, übernutzt oder verödet. Fast ein Viertel der Gebiete mit einer hohen Bedeutung für die Landwirtschaft war in den letzten drei Jahrzehnten von Dürren betroffen. 80 Prozent des Schmutzwassers fließen ungeklärt zurück, 70 Prozent der Süßwasserentnahme gehen auf das Konto der Landwirtschaft. Jeder neunte Mensch hat keinen gesicherten Zugang zu sauberem Wasser. Die Folgen des zerstörenden Anthropozentrismus betreffen in erster Linie ärmere Schichten und spalten die Gesellschaften.
VI. Orientierung geben
Noch einmal: Unsere Zeit braucht die Rückkehr zu einem explizit utopischen Denken. Der US-amerikanische Präsident Franklin Delano Roosevelt sprach zur Begründung des „New Deals“ 1933 vom „Mut zur Utopie“ und von einer starken Antwort auf die Weltwirtschaftskrise, der zunächst als reine Utopie abgetan wurde. Auch heute bedarf es mutiger Antworten in Anbetracht der immer stärker werdenden ökologischen, sozialen und ökonomischen Verwerfungen.
Die NaturFreunde dürfen keine Scheu haben, umstrittene und kontroverse Themen aufzugreifen. Dazu gehört gerade die Frage nach dem wirtschaftlichen Wachstum. Gibt es ein nachhaltiges Wachstum? Ist Nullwachstum möglich? Brauchen wir einen Wachstumsverzicht? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Wachstum und Kapitalismus? Wir tragen hier mit einigen Definitionsbestimmungen zur Klärung bei:
1. Transformation: Sie ist heute ein viel gebrauchter Begriff. Fast jede Veränderung trägt diesen Titel. Doch die Große Transformation hat eine analytische Tiefe und historische Würde. Gemeint sind die Ursachen, die im letzten Jahrhundert zur Weltwirtschaftskrise von 1929 mit allen sozialen und politischen Folgen geführt hat. Karl Polanyi, von dem das große Werk „The Great Transformation“ stammt, hat 1943 in der „Verselbständigung des Marktsystems“ den entscheidenden Grund für die Katastrophen im „Jahrhundert der Extreme“ (Eric Hobsbawm) gesehen. Das freie Marktsystem macht nämlich alles – Mensch, Natur und Geld – zu nichts anderem als Waren. Die Marktkräfte „erniedrigen die menschlichen Tätigkeiten, erschöpfen die Natur und machen Währungen krisenanfällig“.
Auch wenn die mit großen Strichen gezeichnete Gesellschaftsanalyse Polanyis Schwächen hat und nicht in allen Punkten geteilt werden muss, die entscheidende Begründung, die Entbettung der Märkte aus gesellschaftlichen Bindungen, bleibt der zentrale Punkt für die Beschreibung auch heutiger gesellschaftlicher Krisen. Die Forderung nach einer legitimierten und übergeordneten Instanz, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist, stellt sich heute schon aus der sozial-ökologischen Perspektive als Notwendigkeit dar. Es ist genau diese Orientierung, die Polanyi vorgab, als er von Staat und Wirtschaft einforderte, sie müssen den Interessen der Menschen dienen und nicht umgekehrt. Die Globalisierung der Märkte und die Digitalisierung der Welt bleiben die entscheidenden Triebkräfte für die wirtschaftlichen Krisen und gesellschaftlichen Umbrüche. Die NaturFreunde wollen eine soziale und ökologische Gestaltung der Transformation.
2. Grenzen des Wachstums: Es wäre ein großer Irrtum anzunehmen, mit einer Umstellung auf Erneuerbare Energien könne es weitergehen wie bisher. Wir haben es nicht allein mit einem „technischen Problem“ zu tun. Schon die schiere Quantität ist zur Achillesferse der modernen Gesellschaft geworden, denn sie überschreitet die Grenzen der Tragfähigkeit im Erdsystem. Mit der systematischen Nutzung von Arbeit und Ressourcen, insbesondere von fossilen Brennstoffen, wurde das Industriezeitalter einerseits zum Motor des Fortschritts, andererseits aber auch zum ZerNaturFreunde- Informationsbroschüre Anthropozän 29 störer der natürlichen Lebensgrundlagen. Das ist nicht nur eine Frage des massenhaften Einsatzes von Gas, Kohle und Erdöl, sondern auch der Plünderung der Naturgüter generell.
Wir kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass die Menschheit nicht nur schnell die Nutzung der fossilen Energieträger beenden, sondern auch die Belastungen der Öko-Systeme und die Nutzung der natürlichen Ressourcen generell reduzieren muss. Von daher müssen Umbau und Mäßigung miteinander verbunden werden. Die Rückkehr der Ökologie in Wirtschaft und Gesellschaft muss mit Klimagerechtigkeit verbunden werden, soll das 21. Jahrhundert nicht zum Jahrhundert der Verteilungskämpfe werden.
3. Nachhaltigkeit: Notwendig ist auch eine eindeutige Definition, was unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Wir definieren Nachhaltigkeit als das „Prinzip Verantwortung“, heute Entscheidungen so zu treffen, dass sie nach unserem gefestigten oder begründeten Wissen, auch in der Zukunft so getroffen werden können. Also die Bedürfnisse der heutigen Generationen in einer Weise zu befriedigen, dass künftige Generationen das auch noch angemessen tun können.
Nachhaltigkeit hält an der technisch-ökonomischen Dynamik fest, die gesellschaftliche Reformen möglich macht, kommt aber von Wachstum zu Entwicklung. Wachstum ist endlich, Entwicklung nach menschlichen Zeitmaßstäben nicht, abhängig von den politischen Rahmensetzungen. Insofern ist Nachhaltigkeit nicht vereinbar mit dem Regime der kurzen Frist, das den heutigen globalen Kapitalismus prägt. Insofern erfordert eine nachhaltige Entwicklung politische Vorgaben, die mit dem Neoliberalismus nicht vereinbar sind. Die Antwort auf die Revolution der Natur, die sich insbesondere in der Klimakrise zeigt, muss auch die Überwindung des kapitalistischen Verwertungszwangs sein. Die Beendigung der Naturvergessenheit darf nicht zu einer neuen Menschenvergessenheit werden.
4. Ökologische Marktwirtschaft: Der Mangel an historischer Erfahrung mit Perioden ohne Wachstum, beziehungsweise die Ängste, die damit aus den Erfahrungen vergangener Epochen geschürt werden, bauen ideologische Barrieren auf, beziehungsweise sind nicht auf die heutige Zeit übertragbar. Überwiegend wird ein enger Zusammenhang zwischen Marktwirtschaft und Wachstum gesehen, ja sogar als Voraussetzungen hingestellt. Das ist heute das aus den letzten Jahrzehnten vertraute System der Markt- und Geldwirtschaft, zumal es in besonderer Weise beim 30 NaturFreunde-Informationsbroschüre Anthropozän Erreichen von Wohlstand effizient war. Diese Verbindung hat mit zur ökologischen Krise beigetragen.
Daraus darf und kann nicht geschlossen werden, dass Marktwirtschaft ohne Wachstum unmöglich wäre. Durch ökologische Kreisläufe und eine massive Steigerung der Energie- und Rohstoffproduktivität wird eine „Ökonomie des Vermeidens“ möglich. Beispiel: In der Energieversorgung ist die systematische Identifizierung von Einspar- und Effizienzpotenzialen auch ökonomisch sinnvoller als die Erweiterung der Erzeugungskapazitäten. Dabei ist entscheidend, die steuerlichen Belastungen vom Faktor Arbeit auf den Faktor Energie und Ressourcen zu verlagern. Eine politisch gestaltete, nicht wachsende Marktwirtschaft erscheint dann nicht unmöglich.
5. Grenzen des Wachstums – Grenzen des Wohlstands? Hier wurde aufgezeigt, dass das quantitative Wachstum nicht nur die Natur zerstört, sondern auch das Ende der menschlichen Zivilisation denkbar macht. Die Endlichkeit unseres Planeten für menschliches Leben ist der Ausgangspunkt einer Neuorientierung für Fortschritt in unserer zusammengewachsenen Welt. Von daher geht der Konflikt tiefer als die Beendigung der Nutzung der fossilen Energieträger. So bedarf es selbst für die Produktion und Nutzung Erneuerbarer Energien in den drei Bereichen Elektrizität, Wärme und Mobilität in einem erheblichen Umfang „Natur“ und nicht erneuerbare Ressourcen, etwa seltene Metalle.
Alle bisherigen Versuche, die Ressourcennutzung von wirtschaftlichem Wachstum und technischem Fortschritt zu trennen, waren nur sehr begrenzt erfolgreich. Insofern geht es auch um die Frage der Bedürfnisse. Eine nachhaltige Welt braucht ein anderes Wohlstandsmodell, dass auch auf Begrenzung und Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), bestimmt die in Preise umsetzbaren Waren- und Produktionsleistungen, ist dafür kein wirklicher Indikator, sondern eine ungeeignete Messgröße. Ein Wohlfahrtsindikator ist notwendig, wie ihn beispielsweise Hans Diefenbacher vorgelegt hat. Er macht deutlich: Weder muss ein steigendes BIP eine Steigerung des Wohlstands bedeuten, noch setzt höherer Wohlstand ein höheres BIP voraus.
Der erwartete Wandel von materiellen zu immateriellen Bedürfnissen, die wachsende Bedeutung der Dienstleistungen und ein Zuwachs öko-intelligenter Innovationen können die Gestaltung der Transformation erleichtern, aber entscheidend wird sein, die Chancen und Belastungen sozial gerecht zu organisieren. Die beiden historischen Grundideen der NaturFreunde, die Verbindung von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit und mehr Demokratie, bekommen eine neue, ja sogar weitergehende Bedeutung.
6. Suffizienz: Die Gestaltung der Transformation ist nicht nur eine Frage der Innovationen und technischer Umbaustrategien. An einer Reduktion des Energie- und Ressourceneinsatzes, also Begrenzung und Verzicht, kommen wir nicht vorbei, soll es zu einem Frieden mit der Natur kommen und der Zusammenhalt der Gesellschaft bewahrt bleiben. Die entscheidende Frage ist nicht, ob Suffizienz (Mäßigung, Selbstbeschränkung) notwendig ist, sondern wie die Suffizienz ausgestaltet wird. Sie muss in einen engen Zusammenhang mit Verteilungsgerechtigkeit gestellt werden. Von daher ist die Verbindung von ökologischer und sozialer Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung.
7. Globalisierung: Eine Kernfrage für die Rückgewinnung politischer Handlungsfähigkeit ist die Gestaltung der Globalisierung. Die Globalisierung der Märkte und die Digitalisierung der Welt haben in den letzten Jahrzehnten die Voraussetzungen für die Verwirklichung von Reformen geschwächt. Die letzten Jahre waren geprägt entweder von Anpassung an oder Zustimmung für die Globalisierung. Die soziale Demokratie wurde geschwächt. Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat sich zu Lasten des Gemeinwohls verschoben. Die NaturFreunde plädieren dafür, zu einer „Regionalisierung“ der Globalisierung zu kommen, die neue Gleichgewichte schafft. Wir wollen eine starke Europäische Union in enger Zusammenarbeit mit Russland, wir wollen ein starkes Asien, Afrika, Nordamerika, Lateinamerika und den Zusammenschluss der Staaten um den 6. Kontinent. Sie zu stärken und eine höhere Selbstständigkeit zu fördern, führt zu einer Welt, in der es weniger Hierarchien und Abhängigkeiten von einzelnen Machtzentren gibt.
8. Friedenspolitik: Die Bewältigung der Klimakrise und die Verwirklichung einer nachhaltigen Gesellschaft sind eine Voraussetzung für den inneren und äußeren Frieden. Die NaturFreunde halten es für einen verhängnisvollen Irrweg, zu immer mehr Aufrüstung zu kommen. Heute entfallen knapp 75 Prozent der weltweiten Rüstungsausgaben, die höher liegen als vor dem Ende der in Ost und West zweigeteilten Welt, auf nur zehn Staaten. Deutschland ist auf Platz 7. Das ist nicht nur massive Geldverschwendung, sondern birgt auch die Gefahr, dass sich in der Klimakrise der reiche Teil der Erde gegen die unwirtlich werdende Welt abschotten wird. Wir leben am Rande des Friedens, schon heute ist die Zahl der Klima- und Umweltflüchtlinge höher als die Zahl der Kriegsflüchtlinge. Wir brauchen Abrüstung statt Aufrüstung. Unsere Leitlinie ist die Idee der „Gemeinsamen Sicherheit“, die 1982 von Olof Palme für die Vereinten Nationen entwickelt wurde. Sie ist heute wichtiger denn je.
VII. Die Idee der Emanzipation – sozial und ökologisch
Klimapolitik muss zu einer sozial-ökologischen Gestaltungspolitik werden. Dafür haben die sozialen Bewegungen heute den Schlüssel für einen neuen Fortschritt in der Hand. Die NaturFreunde müssen an ihre historischen Wurzeln anknüpfen, nämlich an die Idee der sozialen Emanzipation des Menschen, die heute erweitert werden muss. Das erfordert einen Perspektivenwechsel für einen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag.
Das Anthropozän beschreibt den Menschen als Akteur im planetarischen Maßstab. Es ist ein „blauer Brief“ für den Umgang mit technisch-ökonomischer Macht. Hier muss der Mensch seine Abhängigkeit vom wirtschaftlichen Wachstum und wirtschaftlichen Verwertungszwängen überwinden, so dass es zu einem neuen Humanismus kommt und der Mensch zu einem sozial-ökologischen Gestalter der Anthropozäns wird. Die Chance einer neuen, erweiterten Emanzipation des Menschen in Verantwortung für die Menschheit muss für einen neuen Fortschritt genutzt werden. Dann können wir der humanen Bestimmung des Lebens gerecht werden und die Erde zum Ort eines guten Lebens für alle machen.
Natürlich verlangt das eine Auseinandersetzung mit dem global dominierenden Kapitalismus, aber sie geht weit darüber hinaus. Das Anthropozän kann zum Ausgangspunkt für eine neue Menschlichkeit werden, die soziale und ökologische Verantwortung miteinander verbindet. Das ist die Idee der Emanzipation in einem neuen und erweiterten Sinne. Ein sozial-ökologischer Gesellschaftsvertrag schafft dafür die Voraussetzung.
So wie die Arbeiter*innenbewegung die Voraussetzungen für den Wohlfahrtsstaat und die soziale Demokratie geschaffen hat, so ist sie auch heute gefordert, die Idee der Emanzipation neu zu bestimmen und zu einer Vorreiterin zu werden. Denn ohne mehr Demokratie und Gerechtigkeit wird es nicht zur sozialen und ökologischen Gestaltung der Transformation kommen. Dazu gehören auch Verteilungsfragen wie die Lohn- und Steuerpolitik und Vermögensfragen. Klimapolitik erfordert die Reform von Wirtschaft und Gesellschaft.